Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Schriften zur Geschichtsdidaktik Bd. 26, Idstein 2009 – Zusammenfassung
»Ja, zum Beispiel […] wenn’s halt darum geht, dass die Osmanen vor Wien standen, ja (.) und es aber nicht geschafft haben einzuziehen. Und da sagt natürlich Marek: ›Und warum habt ihr das nicht geschafft? Weil die polnischen Reiter euch von hinten (.) den Garaus gemacht haben.‹ […] Ich versuche dann natürlich zum nächsten Mal herauszufinden, wo denn die Osmanen mal eine wichtige Schlacht gewonnen haben [lacht], um natürlich kontern zu können oder so.«
Diese Schilderung des Schülers Süleyman verdeutlicht seine Perspektive als Schüler auf den Gegenstand des Geschichtsunterrichts. Denn seitdem das »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft« (Jeismann) als Zentralkategorie der Geschichtsdidaktik definiert wurde, sind überzeugende Theorieansätze erarbeitet worden, deren Anliegen ein Geschichtsunterricht ist, bei dem Geschichte zu denken, nicht zu pauken im Zentrum steht. Das Ziel dieser Ansätze ist, dass die Schülerinnen und Schüler ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein entwickeln (Schreiber 2002). Dies scheint in einer kleiner werdenden Welt und in einer immer heterogener werdenden Gesellschaft notwendig zu sein und entsprechende Konzepte wurden vorgelegt (Alavi 1998, Körber 2001). Zugleich zeigen empirische Studien aber, dass die mit diesen Konzepten verbundenen Hoffnungen sich nur begrenzt widerspiegeln (z.B.: von Borries ET AL. 2005) – vielfach scheinen die Ziele des Geschichtsunterrichts an den Schülerinnen und Schülern vorbei zu gehen. Die Kernthese meiner Arbeit ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler u.a. nicht in ihrer historischen Identität angesprochen fühlten und sie keinen Anlass sahen, ihre historische Identität zu reflektieren und deshalb auch kein Anlass zur Entwicklung historischer Kompetenzen gegeben ist.
Empirische Studien zum Geschichtsbewusstsein und zum historischen Lernen in einer Einwanderungsgesellschaft liegen erst vereinzelt vor (z.B. Georgi 2003). Zudem wurden meist die jeweiligen Deutungen und Orientierungen der Probanden an Hand vorgegebener historischer Themen (insbesondere des Nationalsozialismus und des Holocausts) untersucht und der Zusammenhang zwischen historischen Identitäten und Geschichtsunterricht wurde gerade nicht expliziert. Die Frage aber, inwieweit die vorgegebenen Themen den Orientierungsbedürfnissen der Probanden entsprachen, ist damit nicht zu klären.
Deshalb habe ich eine rekonstruktive Studie durchgeführt, in der acht Schülerinnen und Schüler eines heterogen zusammengesetzten Leistungskurses Geschichte (15 Schüler, acht Nationalitäten, mehrere Religionen usw.) jeweils zweimal befragt wurden: in einem ersten Interview wurden sie gebeten, ihren Geschichtsunterricht an Hand einer videographierten Stunde zu kommentieren (»Stimulated Recall« nach Gass/Mackey (2000)), in einem zweiten die »Geschichte von ihren Erfahrungen mit Geschichte« zu erzählen (orientiert an Helfferich 2005). In diesen Erzählungen berichten die Probanden von Sinnbildungen zu unterschiedlichen Themen a) zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens und b) in unterschiedlichen Erinnerungsmilieus. Der narrative Zusammenhang dieser Sinnbildungen und damit Identitätskonstruktionen lässt sich als »historische Identität« bezeichnen. Insgesamt können die langfristigen Entwicklungen der historischen Sozialisation mit den Erfahrungen einer konkreten Unterrichtsstunde trianguliert werden. Die Auswertung orientiert sich an der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2003, Nohl 2006).
In Anlehnung an die Bildungsgangforschung (Trautmann 2004, Schenk 2005) werden damit die Perspektiven der Lernenden auf ihre Lern- und Bildungsprozesse ins Zentrum der Untersuchung gestellt und dabei wird die kulturelle Heterogenität der Lernenden explizit berücksichtigt. Das Ziel der Untersuchung ist, Verarbeitungsformen von Geschichte an Hand von Fallbeispielen zu rekonstruieren und dabei den jeweiligen Zusammenhang mit dem Geschichtsunterricht besonders zu fokussieren. Dabei dienen insbesondere das Konzept der historischen Identität und die Kompetenztheorie historischen Denkens (Körber/Schreiber/Schöner 2007) als heuristische Kategorien, um das Thema zu bearbeiten.
Fünf Fallstudien bieten einen Einblick, wie Schülerinnen und Schüler ihren Geschichtsunterricht lang- und kurzfristig erleben und wie sie mit den dort gestellten schulischen Anforderungen umgehen. Dafür sind die kulturellen Zugehörigkeiten von besonderer Bedeutung, denn eine Schülerin, deren Urgroßvater stellvertretender Lagerkommandant eines Konzentrationslagers und deren Vater politischer Häftling in der DDR war, nimmt am Unterricht völlig anders teil als ein Schüler, der die Nationalitätenkonflikte auf dem Balkan und seinen Status als Ausländer mit konstruktivistischen Theorien reflektiert. Schon diese beiden Beispiele verdeutlichen die Heterogenität heutiger Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Geschichte.
Diese Studie liefert Erkenntnisse darüber, wie Lernsituationen strukturiert sein sollten, in denen eine aktive Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit den Identitätsangeboten von Geschichte angeregt wird, und es zu einer Entwicklung historischer Kompetenzen kommt. Dafür ist – im Sinne der Bildungsgangforschung – die Subjektperspektive der Schülerinnen und Schüler auf die Sinnbildungsangebote im und außerhalb des Geschichtsunterrichts zentral. Außerdem wird durch das Sampling möglich, die Heterogenität eines realen Geschichtskurses exemplarisch herauszuarbeiten und damit die Frage diskutierbarer zu machen, wie Konzepte historischen Lernens in heterogenen Lerngruppen konzipiert werden können.
Die Arbeit wurde mit dem Karl-Heinz-Ditze-Preis 2009 ausgezeichnet.
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Vorwort, Inhaltsverzeichnis und Einleitung finden sich als PDF-Dokument unter: www.schulz-kirchner.de/fileswp/meyer_hamme_identitaeten.pdf
Johannes Meyer-Hamme studierte Geschichte, Geographie und Erziehungswissenschaft in Hamburg und Southampton. 2009 promovierte er mit einer empirischen Arbeit über historisches Lernen in der Einwanderungsgesellschaft, wofür er mit dem Karl-H. Ditze-Preis 2009 ausgezeichnet wurde. www2.erzwiss.uni-hamburg.de/forschung/Gradkoll/mitglied/Meyer-Hamme.htm