Es wird sich zeigen müssen, inwieweit es in Zukunft gelingt, den relativ jungen Begriff des Sich-Orientierens als anthropologische Bedingung allen Lebens auf Dauer zu etablieren.
Wohl unbestreitbar ist die These von Werner Stegmaier,
Philosophieprofessor in Greifswald, dass wir uns,
»mehr oder weniger und so oder anders, laufend neu orientieren. Aber um
uns orientieren zu können, müssen wir auch immer schon orientiert sein.
Orientierung ist Bedingung allen Lebens, wir kommen nicht hinter sie zurück
und nicht über sie hinaus. Orientierung vollzieht sich in einem Selbstbezug,
der sich laufend erneuert, und alles, was wir über sie sagen können, setzt
sie schon, in Gestalt sprachlicher Orientierung voraus. Wir bewegen uns in
einem Orientierungszirkel (...) Und dabei handelt es sich zunächst immer um
die Orientierung des Einzelnen in seiner Situation, die anders ist als jede
andere. Sofern er Orientierung mit andern teilt, ist das wieder nur so
möglich, dass er sich an andern orientiert, als Orientierung an anderer
Orientierung.«
Werner Stegmaier (Hrsg.): Orientierung. Philosophische Perspektiven.
Frankfurt/M: Suhrkamp 2005, S. 9.
In den folgenden Überlegungen geht es jedoch nicht um eine philosophische Fortführung solcher Überlegungen, sondern um die eher praktische Frage, inwieweit der Begriff des Sich-Orientierens die Lehrerbildung befördern könnte. Dabei wird der Begriff bewusst nicht im irreflexiven Sinne gebraucht – bekanntlich wurde im Kirchenbau die Apsis nach Osten ausgerichtet, sprich: orientiert – sondern im reflexiven Sinne, seinem beruflichen Handeln eine Richtung geben. In Zeiten, in denen zunehmend reflexive Elemente in der Lehrerbildung wieder entdeckt werden, wird in Anlehnung an Andreas Luckner zur Diskussion gestellt, inwieweit sich ein alltagssprachlich durchaus denkbar geläufiger und sinnvoller Satz dazu eignet, Strukturen von Lehrerbildung transparent zu machen, Irritationen oder gar Krisen im Sinne einer Diagnose zu typologisieren und entsprechende Beratungsangebote zu entwickeln. Dabei kann nicht Anspruch auf Originalität erhoben werden. Es geht um nicht mehr und nicht weniger um einen Versuch, Vorgaben aus der Philosophie auf das pädagogische Praxisfeld herunter zu brechen.
Um die ethische Reflexion zu befördern, schlägt Luckner folgende Unterscheidungen vor:
Jemand (1) orientiert sich (2) an etwas oder jemanden (3) in Bezug auf etwas (4) mit Hilfe von jemanden oder etwas (5) vermöge von etwas (6).
In dem hier interessierenden Fall der Lehrerbildung bezeichnen die Stellen (1) und (2) das Orientierungssubjekt, die Referendarin oder den Referendar; die Stelle (3) meint die Orientierungsinstanz wie Werte, Ideale, Vorbilder, im weitesten Sinne Normen; die Stelle (4) benennt den Orientierungsbereich, also Schule und Seminar; die Stelle (5) ist durch bereichsspezifische Personen wie Schüler oder Ausbilder und durch bereichsspezifische Orientierungsmittel (Fachliterartur, Informatikmittel) zu besetzen und letztlich die Stelle (6) führt bereichspezifische Orientierungsfähigkeiten an, sich in einem Handlungsraum zurecht zu finden.
Der o.a. Satz könnte also berufsspezifisch wie folgt reformuliert werden:
Der Referendar (1) orientiert sich (2) an pädagogischen Werten und Idealen – etwa in Form von Lehrerleitbildern – (3) in Bezug auf das pädagogische Handlungsfeld (4) mit Hilfe von Ausbildern an Seminar und Schule, seiner Schüler- und Elternklientel und entsprechenden Hilfsmitteln vom Buch bis zum Tipp (5) auf der Grundlage seines persönlichen Orientierungsvermögens im pädagogischen Raum (6).Es dürfte nicht schwer fallen, anhand einer entsprechenden Folie eine überschaubare Einführung in die komplexe Lehrerbildung zu geben. Zudem könnte der Satz von der allgemein-pädagogischen Ebene noch weiter auf die fachbezogene Ausbildung heruntergebrochen werden.
Der hier gewählte Ansatz hat den Vorteil, dass es den Referendar als
Akteur in das Zentrum des Geschehens rückt. Weiter erlaubt es die
diagnostische Frage, was denn einem Referendar eigentlich fehlt, wenn er
desorientiert ist und wie dem prophylaktisch oder auch fördernd zu begegnen
ist. Hier trifft sich die Thematik der Orientierung mit den Gedanken der
Entwicklungsaufgaben, wie sie im Rahmen der Bildungsgangdidaktik im Umfeld
von Meinert Meyer entwickelt wurden.
Zu dem Thema Bildungsgangdidaktik siehe Uwe Hericks, Josef Keuffer, Hans
Christof Kräft, Ingrid Kunze (Hrsg.): Bildungsgangdidaktik –
Perspektiven für Fachunterricht und Lehrerbildung. Opladen: Leske+Budrich
2001.
Luckner schlägt unter Bezug auf die o.a. Differenzierungen drei Desorientierungstypen und dem entsprechende Beratungstypen vor, die sich nach unserer Erfahrung auch in der Lehrerbildung identifizieren lassen:
Man kann Luckner zustimmen, dass die Desorientierung aufgrund von Unerfahrenheit der klassische Fall ist, zu deren Bewältigung in der Regel zunächst eine erste Orientierungsphase durchlaufen werden muss. Beim Einstieg in die zweite Phase der Lehrerbildung werden solche ersten Orientierungsphasen häufig als Kompaktveranstaltungen oder z.B. als Pdagogische Wochen organisiert, um heraus zu finden, wie man am besten selbst oder fremd bestimmte Ziele – auch Standards – erreicht. Der Referendar, der nur eine Information braucht (»Wo ist das Lehrerzimmer?«) befindet sich in der Situation epistemischer Unerfahrenheit – ein theoretisch eigentlich trivialer Fall. Weniger trivial ist die praktische Unerfahrenheit (»Wie eröffne ich eine Stunde?«). Um diese Unerfahrenheit aufzulösen, bedarf es z.B. nicht nur des Wissens, in welchem Kapitel Hilbert Meyer den Stundeneinstieg behandelt, sondern auch der Praxis eigenen Unterrichts.
Luckner weist zustimmungsfähig darauf hin, dass Unerfahrenheit nicht
unbedingt Desorientierung bedeuten muss. Der Berufsnovize wird in der Regel
– wie ein Kind seine natürliche Umwelt – seine neue berufliche
Umwelt – erkunden, sich Entwicklungsaufgaben stellen und den
Wissensvorsprung von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen zu nutzen suchen.
Bei aller theoretischen Trivialitt kann dieses sich zeit- und punktgenaue
Verfügbar-Machen von Wissen in der Praxis eine erhebliche Schwierigkeit
ausmachen. Luckner deutet hier die Möglichkeit an, solches Vorsprungs- und
Expertenwissen als situations- und individueninvariant in Datenbanken
abzulegen – vergleichbar dem Versuch des Seminars Gymnasium
Gesamtschule Hamm, so genannte virtuelle Lernstationen
aufzubauen. Dieser Versuch ist aber u.a. angesichts der Schwierigkeit einer
überzeugenden Wissenorganisation nicht über Ansätze hinausgekommen.
Görlich, Christian F.; Humbert, Ludger: CSCL und die Zukunft der
Lehrerbildung. In: Haake, Jörg; Schwabe, Gerd; Wessner, Martin (Hrsg.) :
CSCL-Kompendium. Lehr- und Handbuch zum computerunterstützen kooperativen
Lernen. München: Oldenbourg Verlag, 2004, S. 370–379.
dies.: Zur Rolle der Informatik im Kontext der mehrphasigen Lehrerbildung. In: Hubwieser, Peter (Hrsg.): Informatik und Schule – Informatische Fachkonzepte im Unterricht. Bonn : Köllen Druck+Verlag, September 2003 (GI-Edition – Lecture Notes in Informatics – Proceedings, P-32), S. 89–99.
Während es bei dieser ersten Orientierungsphase darum geht, die zukünftige
Kollegin oder den zukünftigen Kollegen beratend über das nötige
Knowing-that und Knowing-how auf den handwerklich richtigen
Weg zu bringen, kann die zweite aufgewiesene Orientierungsnotwendigkeit
krisenhafte Züge zeigen, insofern hier Zielkonflikte zur Klärung anstehen:
Was ist für mich ein guter Lehrer? – Was ist für uns eine gute
Schule?
Eine Weggabelung erfordert von uns eine Entscheidung, sie kann durch
Information zwar erleichtert, aber nicht behoben werden. Diese
Entscheidungsnotwendigkeit ist nicht nur im Grundsätzlichen gegeben, gerade
in den subtilen intrarollenspezifischen Konflikten des Lehreralltags. Die
Beschäftigung mit den besonders von Rainer Winkel in den Blick gerückten
Antinomien gehörte zumindest in den 90iger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu
den Standards der Lehrerausbildung. Die hier geforderte Balance zwischen
personaler und sozialer Identität, die Justierung der eigenen
Lehrerpersönlichkeit kann keinem Ausbilder übertragen werden, allerdings hat
bei der Klärung der jeweils eigenen Intentionen die berühmte Hilfe zur
Selbsthilfe ihren Ort.
Bei der Desorientierung aufgrund von Uneigentlichkeit, die als philosophisches Thema hier nicht entfaltet werden kann, handelt es sich im Rahmen der Lehrerausbildung in der Regel um Situationen, wo Ausbilder bei der Frage nach Rat natürlich menschlich gefordert sind, wo sie jedoch professionell auch ihre Grenzen erfahren. Gespräche angesichts eines gescheiterten Lehrerexamens oder angesichts des sich im Einzelfall schwierig gestaltenden Versuches, mit fortgeschrittenem Alter als Lehrer eine neue Berufsexistenz aufzubauen, erfordern eine andere Professionalität. Es ist nicht überraschend. dass in diesen Kontexten von Verantwortlichen offen über Kooperationen mit Beratungsstellen oder auch Kirchen nachgedacht wird.
Die oben skizzierte Typologie ist als Gesprächsangebot für die
Weiterentwicklung von Orientierungshilfen in der Lehrerausbildung gedacht.
Oder sollte Descartes Recht behalten mit seinem schlichten Rat, den er
verirrten Reisenden im Wald erteilt. Danach dürfen sie »nicht herumirren
und sich bald nach der einen Richtung, bald nach der andern wenden und noch
weniger an einer Stelle stehen bleiben, sondern müssen immer so weit wie
möglich geradeaus in derselben Richtung vorangehen und dürfen die Richtung
nicht aus schwachen Rücksichten verändern, auch wenn es vielleicht zu Beginn
nur der Zufall war, der sie bestimmt hat, sie zu wählen; denn auf diese Weise
werden sie, wenn sie nicht schon dorthin kommen, wohin sie wünschen, doch bei
irgendeinem Ziel ankommen, wo es wahrscheinlich besser sein wird als mitten
im Wald«
Descartes: Discours de la methode, 3. Kap.
Die Erinnerung an dieses Zitat ist Werner Stegmaier in dem o.a. Sammelband entnommen, in dem auch der oben wiederholt zitierte Aufsatz von Andreas Luckner: Drei Arten nicht weiter zu wissen … S. 225-241, aufgenommen ist.