»Sorgfältiges Lernen im tiefen Teich, aber das Handeln blitzschnell, so wie sich ein Drache bewegt« (Namyong Chosik, Neoryonjung)
Die Bildungsgangdidaktik beschäftigt sich mit drei Fragestellungen. Sie beansprucht zunächst einmal als Didaktik eine Theorie des Lehrens und Lernens zu sein, ganz allgemein, für die Schule, und für den Unterricht, der fast immer Fachunterricht ist. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird das auf die Formel gebracht, in der Didaktik gehe es um den Lehrer, die Schüler und den Stoff:
Bildungsgangdidaktik fragt zweitens, was die Bildung der nachwachsenden Generation als Zielsetzung von Erziehung, Schule und Unterricht heute sein kann. Dabei stellt sie drittens Bildung als einen biographischen Prozess dar und klärt nicht nur normative Zielvorstellungen bezüglich dieser Bildung. Sie konzentriert sich deshalb auf die Schülerinnen und Schüler als sich entwickelnde junge Persönlichkeiten. Was die Schülerinnen und Schüler als ihr biographisches Gepäck in den Unterricht einbringen, sei skizziert. Es handelt sich um:
Wir1 beziehen uns bezüglich des Entwicklungsaufgabenkonzepts auf den amerikanischen Soziologen und Erziehungswissenschaftler Robert J. Havighurst und auf Autoren, die sich auf ihn beziehen, u.a. auf Helmut Fend 2001). [1]: Akteure sind zum einen die Kollegiaten und professoralen Mitglieder des DFG-Graduiertenkollegs »Bildungsgangforschung« (2002 – 2008), siehe Homepage der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft. Daneben gibt es aber auch Kolleginnen und Kollegen, die sich der Bildungsgangdidaktik verpflichtet fühlen, ohne Mitglieder des Kollegs gewesen zu sein (siehe die »Studien zur Bildungsgangforschung«, die zunächst bei Leske + Budrich, dann im VS Verlag für Sozialwissenschaften und jetzt im Verlag Barbara Budrich erschienen sind und weiter erscheinen. Wir bemühen uns um eine Ausweitung auf die 2. Phase der Lehrerbildung. Havighurst legt das Programm für verschiedene Entwicklungsstufen aus, ähnlich wie Erik H. Erikson. Havighurst definiert wie folgt:
»The developmental-task concept occupies middle ground between the two opposed theories of education: the theory of freedom - that the child will develop best if left as free as possible, and the theory of constraint - that the child must learn to become a worthy, responsible adult through restraints imposed by his society. A developmental task is midway between an individual need and a societal demand. It assumes an active learner interacting with an active social environment« (Havighurst 1972, S. vi). |
»The tasks the individual must learn – the developmental tasks of life – are those things that constitute healthy and satisfactory growth in our society. They are the things a person must learn if he is to be judged and to judge himself to be a reasonably happy and successful person. A developmental task is a task which arises at or about a certain period in the life of the individual, successful achievement of which leads to his happiness and to success with later tasks, while failure leads to unhappiness in the individual, disapproval by the society, and difficulty with later tasks« (Havighurst 1972, S. 2). |
Am Modell von Havighurst haben wir einiges zu kritisieren, was ich hier nur andeuten kann. Am wichtigsten ist der folgende Aspekt: Ohne eine partielle Freiheit gegenüber gesellschaftlich vorgegebenen Anforderungen wären historische Veränderungen auf der einen Seite und interkulturelle und subkulturelle Differenzen im Verständnis von Entwicklung, Lernen und Bildung auf der anderen Seite schlecht vorstellbar. Während traditionell – so auch Havighurst - die Erwachsenen für die Heranwachsenden erkunden und festlegen, was die Probleme und Aufgaben sind, durch deren Bearbeitung ihre Bildung vorangetrieben werden soll, gehen wir davon aus, dass die Anforderungen, die sich den Heranwachsenden stellen, historisch-kulturell variieren und dass die individuelle Deutung des Lehrangebots im Rahmen der Lösung der Entwicklungsaufgaben eine Spannung zwischen »subjektiven« Deutungen und »objektiven« Vorgaben erzeugt. Es ist noch nicht ausgemacht, ob die etablierte Allgemeinbildung, wie sie die Schule vermittelt, Heranwachsende in der Lösung ihrer Entwicklungsaufgaben unterstützt, selbst eine Entwicklungsaufgabe beschreibt oder die Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben behindert. Es ist deshalb auch noch nicht ausgemacht, was die wirklichen Entwicklungsaufgaben der nachwachsenden Generation sind, auch wenn wir uns nur schwer vorstellen können, dass zum Beispiel Wolfgang Klafkis Schlüsselprobleme, Friedensförderung, Eindämmung der ökologischen Katastrophen, Berufsvorbereitung, Gestaltung der Geschlechterbeziehungen und ähnliches nicht dazu gehören.
Ob und wie die Schule den Bildungsgang der Heranwachsenden behindert oder fördert, ist eine Fragestellung, die Empirie verlangt. Ich nenne deshalb mit Bezug hierauf einige Erträge der Arbeiten aus unserem Hamburger Graduiertenkolleg »Bildungsgangforschung« und die Erträge von in der Nähe des Kollegs angesiedelten Arbeiten:2 [2]: Der größere Teil dieser Arbeiten ist in den »Studien zur Bildungsgangforschung« erschienen.
Sinngebungen, die die Lehrer mit dem Unterricht verbinden, müssen nicht mit denen der Lernenden übereinstimmen. Die Schüler können jeweils unterschiedliche Sinnkonstruktionen in den verschiedenen Unterrichtsfächern realisieren. Sinnfragen stellen sich häufig erst dann, wenn etwas als wenig sinnvoll, als sinnlos oder sogar als absurd erlebt wird. Die Verknüpfung der Sinnkonstruktionen der Lehrer und der Schülerinnen und Schüler mit den anderen Gütekriterien der Unterrichtsgestaltung und ihr Bezug auf die Zielsetzungen des Unterrichts ist eine anspruchsvolle didaktische Aufgabe. Sinnkonstruktion ist die Operationalisierung der These, dass die gesellschaftlich vorgegebenen Entwicklungsaufgaben Motor des Lernens seien. In Umkehrung kann die erfolgreiche Unterstützung von Sinnkonstruktionen etwa durch den Lehrer dazu führen, dass die Schüler neue Perspektiven für die Bearbeitung ihrer Entwicklungsaufgaben entwickeln. Sinnkonstruktion erlaubt lernende Erfahrung und Bedeutungsaufbau, und damit im Unterricht auch Bedeutungsaushandlungen (negotiation of meaning). Im Schaubild:
Lehren und Lernen identifiziert die eine Achse, die von Lehrern und Schülern bei der Unterrichtsgestaltung berücksichtigt werden muss. Die Lernerbiographie/der bisherige Bildungsgang und die Entwicklungsaufgaben bilden die andere Achse. Lernfördernde Sinnkonstruktion wird also in der Schule möglich – das ist die Botschaft der Abbildung –, wenn die vier Bedingungen oder Dimensionen »positiv besetzt« sind.
Was für die Schüler gilt, gilt, wie oben schon angedeutet, auch für die Lehrer. Auch sie bringen ihr biographisches Gepäck mit in den Unterricht, also das, was ihre Individualität ausmacht, gelegentlich ihre Macken, hoffentlich ihre professionelle Kompetenz! Auch sie haben Zukunftserwartungen und sie wissen in der Regel, dass sie ihr Wissen und Können weit**er ausbauen müssen. Spannend ist deshalb die Gestaltung der Lehrer-Schüler-Interaktion aus der Perspektive der Bildungsgangdidaktik. Beide Seiten, die Lehrer und die Schüler, bringen ihren Bildungsgang mit in den Unterricht hinein, was ein dialektisches Verhältnis produziert. Lothar Klingberg, auf den wir uns in der Bildungsgangdidaktik immer wieder bezogen haben, formuliert das so:
»Im Unterricht agieren Lehrende und Lernende in einem spezifischen – pädagogisch intendierten und didaktisch instrumentierten – Bedingungs- und Faktorengefüge, in einer pädagogisch hochkomprimierten Konstellation. Der hier wirkende Grundwiderspruch besteht darin, daß einerseits pädagogisch intendierte, didaktisch instrumentierte (oft organisierte) Prozesse auf den (die) Lernenden einwirken, daß pädagogisch legitimierte Ziele, Inhalte, Methoden und Organisationsformen intentional auf Bildung und Erziehung (und damit auf Veränderung und Entwicklung) der Lernenden gerichtet sind, Lernende sich also in einer pädagogisch und didaktisch intendierten Objektposition befinden - und andererseits dieser Prozeß nur vollzogen werden kann, wenn diese pädagogischen Objekte gleichzeitig in eine Subjektposition treten, eine Subjektposition einnehmen. Die pädagogische Logik besteht offenbar in der permanenten Vermittlung dieser gleichzeitigen, wechselnden, sich überlagernden Subjekt- und Objektposition(en) der Lernenden und einer Verschränkung von Subjekt- und Objektpositionen der Lehrenden. (...) Lernende sind weder nur Subjekte pädagogisch intendierter Unterrichtsprozesse, vielmehr sind sie gleichzeitig (ob direkt oder indirekt) Objekte und Subjekte eines Prozesses, dem sie einerseits „ausgesetzt“ sind und den sie andererseits mitgestalten« (Klingberg 1987, S. 8/9). |
Uwe Hericks unterscheidet vier berufsbezogene Entwicklungsaufgaben für Lehrer:
Insofern die Sinnstruktur, die die Lehrenden dem Fachunterricht geben, nicht mit der Sinnstruktur identisch sein muss, die die Lernenden in eben diesem Fachunterricht sehen, kann aus der Aushandlung des Sinns schulischen Unterrichts auf die Gestaltung der Bildungsprozesse Lehrenden und der Lernenden geschlossen werden. |
Wir brauchen, wie oben erläutert, eine Didaktik, die es der nachwachsenden Generation erleichtert, ihre Entwicklungsaufgaben zu bearbeiten. Dass das ungeheuer schwierig ist, sollte einleuchten, denn wir Erwachsenen können immer nur aus unserer Welt- und Selbstsicht heraus unterstützend tätig werden. Wir sind, überspitzt formuliert, obwohl wir immer als die Lehrenden auftreten, die Repräsentanten der Welt von gestern. Wir brauchen also eine Lehrkunst-Didaktik, die konstruktiv damit umgehen kann, dass die Zukunft ungewiss ist. Wir brauchen eine neuartige Unterrichtsgestaltung, die es den Heranwachsenden ermöglicht, den Sinn ihres Lernens selbst zu bestimmen, was aber natürlich nicht heißen kann, dass wir daraauf verzichten, das zu lehren, was uns (in unseren Fächern) als lehrenswert erscheint. Wir müssen also bereit sein, das Lehr-Lern-Programm mit den Schülern auszuhandeln.
Dies fordert dazu heraus, ein Modell zu skizzieren, das didaktische Niveaustufen zu unterscheiden erlaubt. Auf einem ersten Niveau wird man feststellen können, dass Lehrer lehren und Schüler versuchen, sich ihren Anforderungen anzupassen. Auf einem zweiten Niveau lässt sich dann feststellen, dass es zu Aushandlungen, zur negotiation of meaning, kommt, die den Unterricht stabilisieren, und die in Praxisgemeinschaften außerhalb der Schule eigentlich selbstverständlich sind. Die Lehrer stellen sich auf die Schüler ein und die Schüler kommen ihnen, wie das Lothar Klingberg formuliert hat, entgegen. Das eigentlich spannende Niveau ist das dritte, auf dem die Lehrenden akzeptieren, dass die Heranwachsenden das Recht haben, ihre eigene Weltsicht und ihre eigenen Selbstkonzepte zu erarbeiten. Dieses Niveau muss mit Herwig Blankertz (1983, S. 319) die emanzipative Eigenstruktur der Erziehung offenlegen, die gemeinsame Anstrengung der Lehrer und der Lernenden, diesen dazu zu verhelfen, transformatorisch ihr eigenes Selbst- und Weltbild zu erarbeiten. Der Schlüsselbegriff für eine solche emanzipatorische Konzeption des Bildungsgangs ist der der intergenerationellen Kommunikation. Helmut Peukert, auf den wir uns hier berufen, schreibt dazu:
»Gerade wo Erwachsene als Repräsentanten einer historisch ausgearbeiteten Sprache und Kultur auftreten, müssen sie ein nicht eliminierbares subjektives Moment an Handlungsfähigkeit, an Fähigkeit zu kreativer Rekonstruktion und Neukonstruktion beim Kind voraussetzen. Eine transzendentale Analyse jeweils vorauszusetzender möglicher Freiheit gewinnt hier ihren Sinn: Die Bildsamkeit des Heranwachsenden bedeutet nicht Plastizität unter den Händen der Erziehenden, sondern bezeichnet diese Möglichkeitsstruktur von Freiheit (...). Pädagogisches Handeln muss gerade unter Bedingungen der Asymmetrie eine freie Gegenseitigkeit voraussetzen, die nicht davon entlastet, sondern dazu verpflichtet, dem Heranwachsenden erst die Möglichkeitsräume für die Konstruktion einer eigenen Welt und eines eigenen Selbst innovativ zu erschließen« (Peukert 2000, S. 520). |
[3] Bildung im laxen Sinne passiert demgegenüber automatisch an den allgemeinbildenden Schulen, wenn die Unterrichtsinhalte der Fächer im Fächerkanon als für die Bildung nützliches »breites Grundlagenwissen« oder, wie in der PISA-Studie (2001) als Vermittlung von Basiskompetenzen verstanden werden.
Wir erheben in der Bildungsgangdidaktik den Anspruch, unsere Ratschläge für die Unterrichtsgestaltung empirisch abgesichert zu haben oder uns darum zu bemühen, sie noch abzusichern. Für diese Absicherung ist die Bildungsgangdidaktik auf Bildungsgangforschung angewiesen. Wir wissen, dass wir noch nicht fertig sind (vgl. Terhart 2009, S. 147ff und S. 201f) und freuen uns auf die weitere Arbeit.