M. Meyer:
Ich habe jetzt wieder bei John Dewey in »Democraty and Education« traumhaft
interessante Stellen gelesen, in denen Dewey darüber spricht, dass die Schule
die Widerspiegelung der Philosophie der Gesellschaft sei. Deshalb müssten
eigentlich Philosophen in den Beirat berufen werden – wenn denn Helmut
von Hentig sich zurecht auf John Dewey bezogen hat.
J. Keuffer:
Nun war John Dewey nicht nur Bildungsphilosoph, sondern auch Gestalter und
Pragmatiker. Da kommen schon etliche Funktionen zusammen. Aber es ist wohl
richtig, dass im Moment die Bildungsphilosophie nicht den Stellenwert wie
1974 hat, als Hartmut von Hentig dieses Haus gegründet hat. Da hatte sie
einen höheren Stellenwert als in den heutigen Zeiten von PISA, von Literacy
und Kompetenzentwicklung.
H. Kroeger:
Hartmut von Hentig hat den Fachphilosophen eher ein bisschen misstraut, bei
all seiner »Anhänglichkeit« an das Fach Philosophie. Wir hatten deshalb am
Anfang hier am Kolleg kein Fach Philosophie – mit Absicht. Von Hentig
hatte die etwas besondere Position, dass die Philosophie in allen Dingen sein
müsse. Das heißt: wir sollten hier am Oberstufen-Kolleg alle auch Philosophen
sein, und das haben wir mehr schlecht als recht hin bekommen. Inzwischen
lehren wir seit 20 Jahren das Studienfach Philosophie durch die
entsprechenden Experten, und das tut uns gut.
M. Meyer:
Das ist dieser uralte Streit, auf welche Weise Philosophie, Religion oder was
auch immer in der Schule wirksam werden kann – als fächerübergreifendes
Prinzip für die ganze Schule oder als Einzelfach.
J. Keuffer:
Dieser Streit geht heute nach wie vor durch unser Haus. Hartmut von Hentig
war auch der Auffassung, dass man Englisch als Fach nicht unbedingt brauche,
Englisch gehöre allgemein zur Oberstufe. Das Haus hatte lange Zeit
Schwierigkeiten, damit umzugehen. Wie lehrt man Englisch als quer liegende
Aufgabe? Heute haben wir das Fach in beiden Varianten.
H. Kroeger:
Als Studienfach hatten wir Englisch sowohl als Grund- als auch als
Leistungskurs immer. Hartmut von Hentig hatte die spannende Position, die wir
in der Praxis auch 10-15 Jahre durchgehalten haben, dass die so
genannten Sprachen – zu denen gehörten die Fremdsprachen, Deutsch und
Mathematik – eigentlich nicht separat als Grundkurse angeboten werden
sollten. Man solle sie – ich würde nicht sagen: »by the way« –
aber zumindest im Projekt, im jeweiligen thematischen Zusammenhang eines
Vorhabens lernen können. Das hat dazu geführt, dass wir viele Jahre lang die
Fremdsprachenkurse in eine fünfwöchige Intensivphase mit
12 Wochenstunden gelegt und die normalen längeren Semesterphasen völlig
ohne Fremdsprachen gestaltet haben. Da haben dann die Fremdsprachen Lehrenden
sehr früh zu Recht protestiert: »So kann man Fremdsprachen nicht lernen.«
Aber es war schon eine spannende Idee: Man hat ein Projekt, interessiert sich
zum Beispiel für südamerikanische Landwirtschaft und merkt dabei, dass man
lauter Zeitungen lesen muss, die alle auf Spanisch geschrieben sind. Hartmut
von Hentigs von Dewey übernommene Idee »Dann lernt man schnell Spanisch«, um
im Rahmen dieses Projektes dann die entsprechenden Lektüren hinkriegen zu
können.
J. Keuffer:
Wir haben heute die Kehrtwende gegen von Hentigs Lernen im Prozess, sozusagen
die andere Seite, mit den Kernfächern. Die »Sprachen« Deutsch, Mathematik
oder Englisch sind als Kernfächer auf dieser anderen Seite verbucht. Weil die
Tradition des Oberstufen-Kollegs aber eigentlich eine andere ist, tun wir uns
damit ein bisschen schwer, jetzt Fächer so zu entwickeln, dass man sie für
alle verbindlich im Abitur prüfen kann. Das ist etwas, was das
Oberstufen-Kollegs nicht so gerne macht. Ich habe auch den Eindruck, dass das
nicht die für die Oberstufe richtigen Lehren aus PISA sind.
Wir haben hier, was die Debatte um die Kernfächer angeht, auch Unterstützung durch den Beirat bekommen. Das gilt sowohl für Hermann Lange als früherem Vorsitzenden als auch für Klaus Jürgen Tillman. Es geht dabei um die Frage,ob die Art und Weise, wie in der Oberstufe Sprachen zu unterrichten sind, immer in der klassischen Form erfolgen muss. Wir kämpfen dafür, dass der Freiraum auch für die Fremdsprachen erhalten bleibt.
H. Kroeger:
Dieses Problem plagt uns in zweierlei Hinsicht, wenn ich die Lage noch einmal
konkret beschreiben darf: Erstens haben wir aus dem von Hentigschen
Sprachkonzept deutliche Konsequenzen gezogen. Wir haben für die Oberstufe
neue Lern- und Unterrichtsgelegenheiten in Form von Basiskursen für die
Jahrgangsstufe 11 entwickelt, nämlich die Förderung der basalen
Fähigkeiten in Deutsch, Mathematik, in den Fremdsprachen, der Informatischen
Bildung und seit einem Jahr auch in den Naturwissenschaften.
Das Wichtige ist dabei, dass diese Basiskurse nicht die Kernfächer sind. Ich bin selber Deutsch-Lehrender und bedaure es natürlich manchmal, in einem solchen Basiskurs nun nicht Goethe, Schiller, Böll oder Brecht lesen zu können. Diese Autoren und viele andere lese ich aber weiterhin sehr gern mit den Kollegiatinnen und Kollegiaten in den Grundkursen und Studienfächern. In den Basiskursen Deutsch in der 11. Jahrgangsstufe haben wir aber ein entwickeltes Konzept mit Diagnose und Förderung/Verbesserung der basalen Fähigkeiten in der Beherrschung der deutschen Sprache – schriftlich/mündlich –, der Lesefähigkeit, was zunächst mit dem Fach Deutsch gar nichts zu tun hat. Es unterrichten dort auch Lehrende, die nicht unbedingt Deutschlehrer sein müssen. Das Konzept ist insgesamt – glauben wir zumindest – gut. Diagnosen, die wir erstellen, haben als Instrumente große Nachfrage gefunden. Davon haben wir auch mehrfach im Beirat berichtet.
Wir können allerdings die Diagnosetexte nicht ständig an die Schulen weiter geben, weil sie dann für uns sozusagen verbrannt sind. Aber das ist ein entwickeltes und jetzt schon seit 20 Jahren mit Erfahrung unterlegtes Konzept zur Förderung der Basiskompetenzen, das Ludwig Huber seinerzeit in die Kultusministerkonferenz eingebracht hat. Leider ist daraus in der KMK das Gegenteil geworden. Sie hat die Kernfächer eingeführt, die für jeden verpflichtend sind. Es ist ja auch schön, Schiller, Goethe, Brecht und Böll zu lesen. Aber es ist gerade in den klassischen Kernfächern Deutsch, Mathematik oder Fremdsprachen nicht garantiert, dass man damit auf Oberstufenniveau noch einmal in den basalen Fähigkeiten wirkliche Fortschritte machen kann.
Das ist deswegen bedeutsam, weil die Abnehmer [z.B. die Universitäten und die Wirtschaft] seit Jahrzehnten darüber Klage führen, dass die Abiturientinnen und Abiturienten in der Beherrschung der deutschen Sprache, der Mathematik und der Fremdsprachen nicht gut genug sind. Gerade das haben wir aufgegriffen, aber es wird nicht richtig gehört. Es gibt weiterhin eine deutliche Differenz zwischen der Förderung der basalen Fähigkeiten und den wieder eingeführten Kernfächern.
Dass wir die Kernfächer jetzt auch bei uns am Oberstufen-Kolleg machen müssen, stört uns, denn das Oberstufen-Kolleg verdankt sich der 1972iger KMK-Reform für die gymnasiale Oberstufe. Damals kam es zu der grundlegenden Feststellung der Gleichwertigkeit aller Fächer, nicht der Hervorgehobenheit der Kernfächer. Dazu gehörte auch die Möglichkeit, Mathematik, Deutsch oder Fremdsprachen abzuwählen.
Mit Blick auf diese grundlegende Entscheidung hat das Oberstufen-Kolleg eine insgesamt erfolgreiche Arbeit gemacht, es hat das Oberstufensystem anders konfiguriert, gerade mit Basiskursen und damit eben auch mit dem Verzicht auf die Kernfachobligatorik. Wir denken, dass unsere Kollegiaten gut sind, auch in dem Bereich, den heute die Kernfächer abdecken. Trotzdem müssen die Kollegiaten jetzt, weil es eben KMK-Verordnungen sind, ab dem Abitur 2013 alle die Kernfächer belegen und auch in zweien davon die Abiturprüfung machen. Wir müssen unser ganzes Konzept deshalb erneut und nicht freiwillig umstellen. Nicht freiwillig heißt dabei, dass bestimmte, bisher von den Kollegiaten gesuchte gute Kombinationen zwischen zwei Leistungskursen, (zwei Studienfächern) nicht mehr gewährleistet werden können. Jetzt müssen die Kollegiaten – und dieses »Müssen« ist für junge Erwachsene immer schlecht – mindestens eines der Kernfächer als Leistungskurs wählen, sie müssen ein zweites und ein drittes Kernfach belegen und in zweien müssen sie die Abiturprüfung ablegen.
J. Keuffer:
Die Vertreter der KMK haben sehr stark auf die Abnehmer gehört, auf die
Hochschulen und ihre Professoren – also unsere Kollegen –, die
sich beschwert haben, die Abiturienten seien nicht gut genug, sie könnten
nicht richtig Deutsch, Mathematik beziehungsweise Fremdsprachen.
H. Kroeger:
Das war vor 30 Jahren auch schon so!
J. Keuffer:
Genau! Deshalb kann man dann auch darüber streiten, ob man auf die heutige
Kritik hören soll oder besser nicht. Wir haben gezeigt, dass man auch mit dem
System, wie wir es hier fahren, gute Lernentwicklungen fördern kann –
ohne diese Kernfächer. Wir haben empirische Instrumente dafür eingesetzt aus
der Lernausgangslagenuntersuchung.
In Baden-Württemberg hat man das Oberstufensystem auch auf Kernfächer umgestellt. Auch dort gibt es mit TOSCA eine empirische Studie, und man hat jetzt, nach sieben Jahren, die Untersuchung wiederholt und festgestellt, dass es zum Beispiel in Englisch gar keine Erfolge und auch im Fach Mathematik nur ganz geringe Erfolge durch die Umstellung gibt. Sprich: die Struktur, die Baden-Württemberg auf der Oberstufe hat, führt nicht unbedingt zu höheren Leistungen.
Nun hat das Oberstufen-Kolleg in diesem Jahr gerade den Deutschen Schulpreis in der Kategorie »Leistung« erhalten. Wir fühlen uns also im System, das wir ursprünglich entwickelt haben, eigentlich bestätigt. Trotzdem kann es in der Form nicht fortgeschrieben werden, weil die KMK-Regelungen entgegen stehen.
M. Meyer:
Meine Frage ist eine Meta-Frage. Welchen Stellenwert hat eigentlich Hartmut
von Hentig im Alltagsgeschäft des Oberstufen-Kollegs? Inwieweit ist er für so
ein Gespräch über die Schulentwicklung heute noch wichtig – gleichsam
als Übervater aus lang vergangener Zeit, wenn auch mit einer schwierigen
Geschichte in den letzten Monaten?
J. Keuffer:
Hans Kroeger ist der ältere von uns beiden. Er kennt von Hentig länger und
sollte vielleicht beginnen.
H. Kroeger:
Von Hentig ist im Alltagsgeschäft des Oberstufen-Kollegs eigentlich nie
richtig drin gewesen. Er hatte sein Büro immer in der Laborschule. Er hat
sich ungleich stärker in der Laborschule engagiert, gerade auch mit den
vielen Konflikten in der Phase der Etablierung der Laborschule, bis hin zu
den Personalentscheidungen, und das heißt, dass er immer ein weniger direktes
Verhältnis zum Oberstufen-Kolleg hatte. Dadurch haben wir auch die Chance
erhalten, uns schon früh in mancher Hinsicht von von Hentig unabhängig zu
machen und uns frei zu schwimmen. Wir haben damit auch einige Konflikte, die
es in den achtziger Jahren in der Laborschule gegeben hat, bei uns nicht
gehabt. Hartmut von Hentig hat das Oberstufen-Kolleg immer als eine
Institution gesehen, in der sich zwar zunächst mit Wirrnissen, aber dann doch
irgendwann die Rationalität durchsetzte, das gute Argument.
Es ist ja auch so, dass wir es hier, anders als in der Laborschule, mit älteren Lernenden und mit einer etwas anders qualifizierten Lehrerschaft zu tun haben.
Von Hentig ist seit 1987, dem Beginn seines Ruhestands, nicht mehr hier am Oberstufen-Kolleg gewesen, und das ist nun auch schon 24 Jahre her. Da hat sich das Oberstufen-Kolleg ungleich stärker als die Laborschule entwickeln müssen. Ende der Neunzigerjahre kam die Ansage, dass das Ministerium das vierjährige Kolleg nicht mehr wollte, nur noch eine dem Regelsystem affine dreijährige Versuchschule.
Diese Konzeptentwicklung hat von Hentig nicht mehr mit begleitet. Da waren Ludwig Huber und die jeweiligen Kollegleiter die großen Streiter. Von Hentig hat im Gegenteil in seiner Autobiografie (»Mein Leben – bedacht und bejaht) im zweiten Band in einem Abschnitt zum Oberstufen-Kolleg geschrieben, dass er diese Entwicklung, wenn auch nicht immer freiwillig, dann aber doch gestaltend mitgemacht habe, dass er sie trotz allem nicht gut finde und eigentlich darum bitte, dass das Oberstufen-Kolleg nicht mehr mit seinem Namen verbunden werden möge.
Diese Distanzierung hat er inzwischen in persönlichen Gesprächen, die wir in den letzten Jahren gehabt haben, etwas zurückgenommen, weil er dann doch die positive Entwicklung – nicht zuletzt, dass es das Oberstufen-Kolleg überhaupt weiter gibt – gesehen hat.
Also – wenn du so fragst – war von Hentig im Alltagsgeschäft früher sicher ein bisschen stärker präsent, weil es z.B. einen gemeinsamen Curriculumrat Laborschule/Oberstufen-Kolleg gab. Wir hatten aber immer schon einen Stellvertretenden Wissenschaftlichen Leiter für das Oberstufen-Kolleg – ich selber bin das auch mehrmals gewesen –, der eigentlich immer in Rücksprache mit von Hentig sehr selbstständig agiert hat. Insofern hat von Hentig bei uns im Alltag schon früher eine nicht so wichtige Rolle gespielt. Natürlich war er als Ideengeber und als der große Hartmut von Hentig, der sich auch in krisenhaften Situationen vor das Oberstufen-Kollegs gestellt hat, eine Hilfe.
Wir haben genau gewusst, dass da in der politischen und medialen Öffentlichkeit ein Machtfaktor sichtbar wird, wenn dieser von Hentig dafür eintritt, dass das Oberstufen-Kolleg erhalten bleibt. Heute ist es aber so, dass viele unserer Lehrenden von Hentig nie life gesehen, dass viele von ihnen vermutlich auch nicht viel von ihm gelesen haben. Trotzdem ist die Bezugnahme auf von Hentig weiter gegeben. Sein Bild hängt ja auch weiterhin im Kolleg – wie ich finde zu Recht!
Ich selbst vertrete, wie ich es wohin schon angedeutet habe, an vielfachen Stellen noch von Hentigsche Grundanliegen und Positionen, auch mit den Weiterentwicklungen in den letzten Jahren.
Was uns dieses Jahr beschäftigt hat, die sexuellen Übergriffe an der Odenwald-Schule, das hat mich als jemanden, der mit von Hentig früher viel zu tun gehabt hat und mit ihm in einem gewissen Sinne auch befreundet war (aber wir duzen uns nicht einmal), auf der persönlichen Ebene doch sehr betroffen gemacht. Ich kann überhaupt nicht verstehen und nachvollziehen, wie er sich in der ganzen Frage – Gerold Becker, Odenwaldschule und sein persönliches Verhältnis zu Gerold Becker – verhalten hat. Diesen ganzen Komplex kann ich nicht verstehen und auch nicht akzeptieren.
Seitdem habe ich auch keinen richtigen Draht mehr zu ihm. Die Situation ist tatsächlich schwierig, und trotzdem finde ich, finden wir, dass von Hentig als Ideengeber weiter für uns wichtig ist. Wir haben dazu auch eine Stellungnahme der Kollegleitung auf der Website des Oberstufen-Kollegs wwwedit.uni-bielefeld.de/OSK/NEOS_Sonderseiten/Aktuelles/2010/missbrauch.html
Wir haben unsere Position auf die Formel gebracht: »Von Hentig gegen von Hentig lesen!« Man muss jetzt aber versuchen, das, was 2010 passiert ist, aufzuarbeiten. Das ist kein einfacher Prozess.
M. Meyer:
Irgendjemand von der Laborschule hat gesagt – was mir auch ein
geleuchtet hat, als das Thema sexuelles Fehlverhalten jeden Tag in der
Zeitung behandelt wurde –, dass zumindest in der Laborschule die
Befürchtung bestand, dass es irgendwelche Trittbrettfahrer geben könnte, die
verkünden, mit ihnen sei auch etwas gewesen. Wenn so eine Nachricht erst
einmal in der Zeitung steht, dann kann das hundertmal falsch sein, es steht
dann in der Zeitung! Ich stelle also fest: Durch diese Medienkrise sind
offensichtlich die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg gut
durchgekommen.
H. Kroeger:
Wir haben dazu mehrstündige, gut vorbereitete Beratungen mit dem Kollegium
und in einer langen Nachmittagssitzung mit sämtlichen Kollegleitern gehabt.
Wir haben dazu die ganze Reihe unserer früheren Kollegleiter, zum Glück
lebende Personen, noch einmal befragen können. Wir haben an alles Mögliche
erinnert. Diese Prüfungen haben ergeben, dass es nach unserem jetzigen
Kenntnisstand keine Vorkommnisse in Form einer sexualisierten Gewalt am
Oberstufen-Kolleg gegeben hat.
M. Meyer:
Eine wichtige Frage ist für mich jetzt, wie es mit der Reformpädagogik
insgesamt weitergeht. Von Hentig ist über die Dewey-Schiene der Repräsentant
für die heutige Reformpädagogik gewesen. Wird sie jetzt insgesamt
diskreditiert?
J. Keuffer:
Dazu haben wir im Moment wirklich spannende Diskussionen, das ganze Jahr
über. Sie wurde in der letzten Zeit hauptsächlich in der Presse geführt, das
Thema wird aber jetzt zunehmend auch im wissenschaftlichen Diskurs
besprochen. Bielefeld hat dazu im letzten Semester eine Tagung zum Thema
»Missachtung und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen« durchgeführt. In
diesem Zusammenhang wurde auch das Thema »Reformpädagogik« aufgegriffen.
Dabei wurden durchaus unterschiedliche Positionen deutlich: Diskreditiert die Missbrauch-Debatte jetzt nur die Odenwaldschule oder, wie Du, Meinert, fragst, die Reformpädagogik allgemein? Da gibt es unterschiedliche Positionen, zum Beispiel die Position von Theodor Schulze, der nach wie vor die Bedeutung der Reformpädagogik betont, und auf der anderen Seite die Position zum Beispiel von Micha Brumlik, der Überschreitung und Missachtung in der Reformpädagogik grundlegend angelegt sieht.
Diese beiden Positionen werden auch im Hause diskutiert. Wir haben für die nächste Woche die beiden Kontrahenten Schulze und Brumlik eingeladen, ihre Thesen vorzutragen. Das Oberstufen-Kolleg und die Laborschule stellen sich also der Debatte. Es gibt aber sicherlich keine abschließende Meinung dazu, und eine solche ist in Kürze auch nicht zu erwarten. Dabei ist natürlich problematisch – da stimme ich Hans Kroeger zu –, wie sich Hartmut von Hentig jetzt in der Sache geäußert hat. Man wirft ihm ja nicht persönlich etwas vor, aber wie er sich geäußert hat, das macht die Debatte um die Reformpädagogik nicht unbedingt einfacher. Insofern gibt es hier aktuell einen Konflikt. Letztendlich ist die Debatte nicht auf die Odenwaldschule und auch nicht auf uns begrenzt.
Wir haben gerade ein Peer-Review-Verfahren gehabt. Jürgen Oelkers, der zu den Kritikern der Reformpädagogik gehört, war hier und hat die Diskussion mit den Worten kommentiert: »Reformpädagogik? Ach, wieso? Das machen sie in Bielefeld doch gar nicht.« Er hat damit indirekt die Frage gestellt, was eigentlich Reformpädagogik sei. Diese Frage kann im Moment keiner verbindlich beantworten. Sind reformpädagogischer Konzepte in dem Sinne zu verstehen, wie sie in Landerziehungsheimen entwickelt worden sind? In dem Sinne, dass bestimmte alte Konzepte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts Vorbildcharakter haben? Da bin ich skeptisch!
Aber natürlich haben wir aus der Tradition gelernt. Deswegen sehe ich eher eine Problemstellung, wie sie von Jürgen Oelkers auf der einen Seite und Heinz-Elmar Tenorth auf der anderen Seite diskutiert wurde.
Es geht eher um Kontinuität, wie sie Tenorth stark macht. Natürlich haben wir gemeinsame Wurzeln. Wenn man – wie wir als Versuchschule – schulische Einrichtungen verändern will, wurzelt das auch in den 1920er Jahren. Wir denken das Damalige aber zeitgemäß weiter. Oelkers macht demgegenüber die Diskontinuität stärker und sagt, eigentlich denke und handele man aus der heutigen Situation heraus. Wir haben eine bestimmte Kollegiatenschaft, die ein spezifisches Angebot erfordert. Darauf bezogen ergeben sich unsere Konzepte – und nicht von dem, was in den zwanziger Jahren einmal irgendjemand irgendwann getan oder gedacht hat.
M. Meyer:
Ich bleibe dabei, das Land sollte sich die Laborschule und das
Oberstufen-Kolleg als Versuchsschulen erhalten, und wenn es nach mir ginge,
gäbe es dabei für die beiden überhaupt keine Auflagen. Vergleichbar etwa mit
einer Professur. Welche Begrenzungen meiner akademischen Freiheit hatte ich
zum Beispiel? Ich hatte Didaktik in Forschung und Lehre zu vertreten. Wie ich
Didaktik definierte, das war meine Sache. Eben diese Freiheit müsste eine
Versuchsschule, eine Experimentalschule, auch haben, und das wäre auch im
Sinne von Dewey und Kant.
J. Keuffer:
Das Oberstufen-Kolleg und die wissenschaftliche Einrichtung haben eine
gemeinsame Position. Wir akzeptieren die Standards des Abiturs, wie sie von
außen gesetzt sind. Aber wir wollen eigentlich, dass die Lernwege und alles,
was zum Abitur führt, freigehalten werden. Dafür gibt es ein Gegenargument
des Ministeriums. Die Vorleistungen, die die Kollegiaten erbringen, sollen
vergleichbar sein. Dieses Gegenargument macht die Politik und auch die
Administration immer stark, indem sie betont, dass es nicht nur die
Abschlussprüfungen sind, die vergleichbar sein müssen; auch die
»Vorabschichtung« soll gegenüber den anderen Schulen vergleichbar sein. Das
ist das Gegenargument, was uns immer wieder vorgetragen wird.
M. Meyer:
Ihr habt da eine schwierigere Situation als sie ein wissenschaftlicher Beirat
hat. Denn zumindest daran würde ich festhalten, dass der Beirat keine
Auflagen in irgend einer Art zu akzeptieren hat. Für ihn gibt es nur das
Kriterium der Qualität der wissenschaftlichen Argumentation.
H. Kroeger:
Man könnte auch die Position vertreten, dass die Laborschule es ungleich
leichter hat als wir, weil es für sie keinen Einschnitt wie das Abitur gibt.
Also selbst wenn die jetzigen Zehnerklassen oder die Neunerklassen
Abschlussprüfungen machen, das Abitur ist noch ein ganz anderes Level, eine
ganz andere Art von Anforderung. Das Oberstufen-Kolleg hatte seit seiner
Gründung mit diesem harten Faktum Abitur und dem, was sich damit in
Deutschland an Hochwertigem verbindet, zu tun. Dies hat uns die ganzen Jahre
seit der Gründung zu schaffen gemacht. Schon 1977 erhielten wir einen ersten,
völlig quer zum Konzept liegenden Erlass, damals von Frau Sebbel als
Abteilungsleiterin im Schulministerium. Wir bekamen damals für die Ablegung
des Abiturs eine normale/reguläre Abiturverordnung. Das Ministerium hatte
nämlich alles abgetippt und immer nur »Schüler« durch »Kollegiaten« ersetzt.
Damit enthielt diese Abiturordnung die normalen Fächer, die normalen Noten,
aber das gab es ja damals alles bei uns überhaupt nicht.
Wir haben uns damals vorgenommen, den Erlass einfach zurück zu schicken. Daraufhin hat das Ministerium eingesehen, dass das so nicht gehen konnte und hat dann aber mit von Hentig und uns zusammen eine eigene Prüfungsordnung aushandeln lassen. Aus dieser Auseinandersetzung ist das interessante, dicke Buch »Die Krise des Abiturs und eine Alternative« bei Klett-Cotta entstanden. Rückblickend meine ich, dass die Aufgabe, so eine Abiturprüfung anderer Art zu entwerfen, damals zwar eine bedrohliche Herausforderung dargestellt hat. Die Arbeit hat aber auch immer wieder Spaß gemacht.
Ch. Görlich:
Dieses Gespräch hat seine eigene Entwicklung genommen und ich halte diese
Entwicklung für einen Glücksfall. Wir, Meinert Meyer und ich, haben unsere
Fragekomplexe eingebracht, gleichwohl ist das Ihnen Wichtige zur Sprache
gekommen.
Erlauben Sie mir deshalb zwei Anmerkungen. Erstens frage ich mich, warum eigentlich John Dewey in unserer europäischen Kultur noch immer nicht die Akzeptanz gefunden hat, die ihm nach meiner Meinung eigentlich zusteht. Und zweitens, offen ist mit Blick auf die Fachstruktur des Gymnasiums auch die Frage, ob nicht das eine oder andere Fach erneut unter dem Gesichtspunkt »eigenes Fach« oder »fächerübergreifendes Prinzip« infrage gestellt werden müsste – zum Beispiel der Religionsunterrichts angesichts der heute faktischen migrationsgebundenen Pluralität der Religionen oder auch die Philosophie. Man bedenke zum Beispiel, welche begrenzenden Konsequenzen es hatte, dass Philosophie in der Oberstufe dem gesellschaftswissenschaftlichen Bereich zugeordnet worden ist. Hier besteht weiter Reformbedarf!
J. Keuffer:
Dieses Haus hat sich immer auf John Dewey berufen. Auch die jetzt von außen
kommende Beratung ist – über die Person von Jürgen Oelkers – von
Deweys »Demokratie und Erziehung« beeinflusst. Diesen Bezug kann man so oder
so wenden, aber wir bleiben bei Deweys Konzept von Schule und Unterricht als
einem Hauptkonzept.