J. Keuffer:
Bildungsgangdidaktik und Bildungsgangforschung sind natürlich etwas, das wir
hier gut kennen. Aber wir haben jetzt keinen Schwerpunkt in dem Sinne, dass
wir sagen: verschiedene Projekte müssen mit diesem Ansatz arbeiten.
Bildungsgangdidaktik und Bildungsgangforschung sind vielmehr
Arbeitsmöglichkeiten, die die Kolleginnen und Kollegen wählen können. Im
Projekt »Übergänge« hat sich das sehr bewährt. Wir haben das Konzept der
Bildungsgangdidaktik und Bildungsforschung systematisch in die Fragebögen
aufgenommen, die für neun Schulen angelegt worden sind, wobei noch
verschiedene andere Konzepte theoretischer Art eingefügt worden sind, die ich
jetzt hier nicht nennen will.
Das Projekt »Übergänge« hat diesen Forschungsansatz also konkret umgesetzt. Weiter haben wir es in dem Projekt »Kollegiaten–Forschung« umgesetzt. Der Ansatz kommt außerdem in der universitären Lehre vor. Wir haben aber nicht im Forschungsplan unserer Abteilung einen Schwerpunkt Bildungsgangforschung ausgewiesen, wie du, Meinert, sie publiziert hast. Das kommt dann vielleicht später einmal.
M. Meyer:
Weil die Kollegiaten hier eine besondere Schülerpopulation sind, ist es
eigentlich notwendig, deren Bildungsgänge vor Beginn der Oberstufe im Sinne
eines Langzeitansatzes zu erforschen.
J. Keuffer:
Wir machen das hier auch indirekt, zum Beispiel in unserem qualitativen
Projekt zu Abbrechern. Wir gucken uns an: Was sind eigentlich die schwierigen
Bildungsgänge im Hause, also die der Kollegiaten, die nicht weitermachen, die
Extremfälle. Wir führen dazu ein qualitatives Projekt durch, das großes
Interesse gefunden hat und für das wir jetzt auch mit dem Lande Hessen
kooperieren, mit zwei Kasseler Schulen, die das genauso interessiert, und
über die wir vom Land Hessen auch Drittmittel bekommen. Wo bleiben
diejenigen, die aus der Oberstufe rausgehen? Was sind ihre Motive? Gibt es
Gründe? Und wenn ja: welche?
Wir finden das wichtig, weil wir eigentlich ein gutes Beratungssystem im Hause haben, aber trotzdem nicht so genau wissen, wenn die Kollegiaten aufgeben, warum sie es tun. Sebastian Boller hat zusammen mit anderen Kollegen dazu ein Forschungsprojekt angelegt, in dem der Bildungsgang direkt ein Thema ist.
H. Kroeger:
Unser Problem ist dabei – wenn man das so komplex anlegt, wie du es
eben noch einmal skizziert hast –, dass wir eine unglaubliche Fülle von
Daten produziert haben, zum Beispiel Daten, die im Rahmen des Bewerbungs- und
Aufnahmeverfahrens erhoben werden. Wir erfragen weiterhin einen gewissen
Hintergrund sozialer und bildungsmäßiger Art aus dem Elternhaus. Da treten
immer Probleme der Anonymisierung und der genauen Kategorisierung auf. Es ist
bei uns weiterhin so, dass wir beim Aufnahmeverfahren selbst schon auf
bestimmte Voraussetzungen zu achten versuchen, die uns wichtiger sind als die
puren Schulnoten der Bewerber, auf die wir am wenigsten achten.
Diese Angaben können ein ziemlich aussagekräftiger Indikator sein. Aber das ganze kann bei den tausenden Kollegiaten, die wir inzwischen haben, ein ziemlich komplexes Unterfangen werden. Wir hatten ja früher schon einmal, in den achtziger Jahren, eine sehr große Längsschnittstudie noch mit Gaby Glässing angefangen, die dann nicht komplett ausgewertet werden konnte, weil sie sehr anspruchsvoll angelegt war. Es wäre gut, wenn Du, Meinert, uns da noch einmal anregen könntest, weil das Projekt vom Übergang von der Schule zur Hochschule nicht mehr ewig laufen wird, zumindest nicht mehr in der bisher praktizierten Form, und weil das auch für den Tagesbedarf verschlankt werden muss. Es wäre auch interessant, wenn Du einfach Anregungen geben könntest, wie man den Umfang der Daten so reduziert, dass es machbar wird.
M. Meyer:
Ich meine, dass sich das Oberstufenkolleg hervorragend für diese
Fragestellung der Bildungsgangforschung eignet. Das heißt zugleich, dass eine
Theorie des Lehrens und Lernens, die den Bildungsgang der Schüler nicht mit
berücksichtigt, aus meiner Sicht defizitär ist.
Ch. Görlich:
Wir haben für unsere Zeitschrift »rhinodidactic« eine thematische Landkarte
entwickelt, in der wir knapp und einem Comic vergleichbar die Grundgedanken
der Bildungsgangdidaktik formuliert haben – ThemenkarteBildungsgang.pdf
unter www.ham.nw.schule.de/pub/bscw.cgi/2283237. Sie sollten bei
der Unterrichtsgestaltung ihre Rolle spielen. Ich habe nämlich manchmal das
Gefühl, dass die Fachdidaktiken an der Universität sich verselbstständigen
und bei der Adaption durch Dritte fast diktatorisch durchregieren. Dem stehen
dann vielfach die Sinnkonstruktionen der Schüler, aber auch die der
praktizierenden Lehrer gegenüber. Ich könnte dies am Lateinunterricht
veranschaulichen, der heute in der fachdidaktischen Diskussion strittig als
»Kulturbegegnung« oder »logisches Training« im Sinne einer Grundqualifikation
anzusiedeln ist. Wo bleibt da der Bildungsgang der Schüler?
J. Keuffer:
Die Fachdidaktiker stehen unter einem enormen Druck. Ihre Stellen werden an
vielen Hochschulen abgebaut, zum Teil auch in Bielefeld. Sie legitimieren
sich heute hauptsächlich dadurch, dass sie Lernentwicklungen als
Leistungsentwicklungen nachzeichnen. Das ist der Schwerpunkt, den sie von
außen aufgedrückt bekommen. Das ist aber eigentlich nicht ihr eigener
Schwerpunkt. Wenn man dann sieht, dass es hier in Bielefeld nur noch einen
Lehrstuhl gibt, der das alles betreiben soll, dann ist das eine völlige
Überforderung, die dort passiert.
Ich finde es schade, dass die Fachdidaktiker sich zu wenig der Fragestellung widmen, wie ein individueller Bildungsgang aussieht, wie die Individualisierung des Lernens vorangetrieben werden kann.
Hier folgen wir nicht den »mainstream« der Fachdidaktiken; da macht das Haus durchaus eigene Erfahrungen und Entwicklungen. Wir sind sehr belesen sind in dem, was individuelle Förderung angeht, und wir haben dazu selbst publiziert.
Zugleich ist wichtig, was die Peers in unserem Peer-Review-Verfahren berichtet haben. Dass sie diese individuelle Förderung so gut wie gar nicht im Hause gesehen haben. Das ist eine Rückmeldung, die man sich kritisch ansehen muss. Das heißt: in der Ideologie des Hauses ist die Forderung da, aber nicht unbedingt in der praktischen Gestaltung. Wie man diesen Widerspruch auflösen kann. das ist eine zentrale Frage, nicht nur für das Haus, sondern für das ganze Schulsystem.
Das Problem der Differenzierung kann man aber nicht in einem Tag lösen, das ist ein Dickschiff für die nächsten 10 Jahre. Wir müssen sicherstellen, dass man Standardisierung auf der einen Seite, also das, was man für die Abschlüsse und für die Unterrichtsentwicklung fordert, mit individuellen Forderungen auf der anderen Seite koppeln kann. Wir als wissenschaftliche Einrichtung haben es dabei relativ einfach. Wir sagen, das seien zwei Seiten einer Medaille, das gehöre zusammen. Die Lehrkraft im Unterricht erfährt dies aber als Widersprüchlichkeit – zurecht. Wie soll sie damit umgehen? Hier liegt ein ganz konkretes Arbeitsfeld, dass wir beackern sollten.
Ch. Görlich:
Angesichts so mächtiger Metaphern wie »Dickschiff« und »zwei Seiten einer
Medaille« könnte man hier eine Zäsur machen. Einverstanden?