Plädoyer für eine neue Bildungsdebatte in der »Wissensgesellschaft«!
Das Ringen um »Bildung« in der gegenwärtigen Lehrerbildung scheint in Zeiten der »Standardorientierung« eine eher marginale Rolle zu spielen. Gerät tatsächlich einmal das Thema Bildung als Bildung ins Gespräch, zeigt sich vielfach eine eigentümliche Widersprüchlichkeit: Die Einen glauben durchaus im Sinne einer Negation zu wissen, welche Menschen, Gruppierungen oder Verhältnisse sie meinen, denen sie wegen präzis benennbarer Mängel glauben, ihnen Attribute wie »halbgebildet«, »ungebildet« o.ä. anheften zu dürfen. Andere zweifeln zunehmend daran, dass man heute in einem positiven Sinne sagen könne, was denn Bildung nun eigentlich sei, und dass sich deshalb die Debatte erledigt habe. Die erste Meinung hat das Geschmäckle von vergangenheitsorientierten Ressentiment, die letztere von Resignation.
Solchen Mentalitäten möchte der folgende Text widersprechen. Wir behaupten, dass wir sehr wohl wissen können, was unter Bildung zu verstehen ist, allerdings in einem eher abstrakten – philosophischen Sinne. Dieses Wissen gilt es herunter zu brechen auf die jeweilig konkrete historische Situation, wenn möglich inhaltlich zu füllen, zumindest jedoch als regulative Idee offen zu halten. In diesem Sinne braucht jede Zeit ihre Bildungsdebatte – auch die so genannte Wissensgesellschaft.
Die Behauptung wissen zu können, was unter Bildung zu verstehen ist, ist zugegebenermaßen eine starke Zumutung – zumutbar auch nur mit einem ironischen Gestus, wie wir ihn von Rorty kennen und in stiller Respekterweisung übernehmen möchten.
Bildung formuliert ein klassisches Problem in dem Sinne, dass es sich als ein grundsätzliches strukturelles Problem in der jeweils zeitspezifischen Sprache kondensiert vorfindet und dass sich bei sich wandelnden Verhältnissen jeweils neu finden muss. Epochen oder Zeiten als solche zu identifizieren ist bekanntlich ein schwieriges Unterfangen; vergleichbar mit den Konstruktionsschwierigkeiten, die sich aus dem Generationenbegriff ergeben. Gleichwohl dürfte die Behauptung Liessmanns zustimmungsfähig sein, dass das Projekt der Moderne mit Bacons Satz datiert werden kann: »Wissen ist Macht« – ein Satz, der die traditionellen Instanzen der »Weltdeutung und Weltbewältigung« zu ersetzen beansprucht. Liessmann gehört zu dem Kreis von Erziehungswissenschaftler in Österreich, die ich als austropädagogische Zeitgeistkritiker schätzen gelernt habe. Seine Formulierung »Weltdeutung und Weltbebewältigung« macht deutlich, dass es beim Wissen und in einem weiteren Sinne auch bei der Bildung neben der kognitiven Dimension immer auch um Politik in einem existentiellen Sinne, um Herrschaft, vor allem aber auch um enttäuschte Hoffnungen ging und geht.
Um diese Sicht zu verdeutlichen, sei ein längeres Zitat von Liessmann erlaubt:
»Bildung war die Utopie des Kleinbürgers, dass es zwischen Lohnarbeit und Kapital noch eine dritte Existenzform geben könnte, Bildung war die Hoffnung der Arbeiterklasse, durch Wissen jene Macht zu erringen, die ihr die mißlungenen oder ausgebliebenen Revolutionen verwehrt hatten, Bildung war und ist das Vehikel, mit dem Unterschichten, Frauen, Migranten, Außenseiter, Behinderte oder unterdrückte Minderheiten emanzipiert und integriert werden sollen, Bildung gilt als begehrte Ressource im Kampf um die Standorte der Informationsgesellschaft, Bildung ist das Mittel, mit dem Vorurteile, Diskriminierungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, Aids, Inhumanität und Völkermord verhindert, die Herausforderungen der Zukunft bewältigt und nebenbei auch noch Kinder glücklich und Erwachsene beschäftigungsfähig gemacht werden sollen. Gerade weil dies alles nicht geht, wurde und wird in kaum einem Bereich soviel gelogen wie in der Bildungspolitik.«
Liessmann verweist hier auf das selbstillusionierende Vokabular der Bildungsbranche. [Siehe dazu auch: If Fase Nr. 18, Mai 2007 – rhinodidactics.de/Ausgaben/ausgabe-18.pdf] Weiter heißt es:
»Bildung war so von Anfang an ein Motor für die Modernisierungschübe, gleichzeitig auch ein falscher Trost für die schamlos so genannten Modernisierungsverlierer, die, weil ohne Bildung, damit auch an ihrem Schicksal selber schuld waren; Bildung fungierte als Stimulus und Beruhigungsmittel in einem: Sie mobilisiert die Menschen und hält sie, als permanentes Versprechen für bessere Zeiten, das als drohender Imperativ wirkt, gleichzeitig davon ab, sich zu mobilisieren; Bildung darf gar nicht gelingen, weil dann ihre Beschränktheit deutlich würde. Sie taugt nicht zur Kompensation verlorener Utopien, und sie ist schon gar kein Garant für das reibungslose Funktionieren effizienzorientierter Ökonomien. Deshalb sind Bildungseinrichtungen auch permanent in der Krise, müssen in regelmßigen Abständen Bildungskatastrophen ausgerufen werden, steigt gerade wegen permanenter Reform der Reformdruck auf Bildungssysteme. […] Allmählich greift die Einsicht um sich, dass nicht die Humboldtschen Bildungsideale, sondern die seit den sechziger Jahren in rascher Abfolge initiierten Bildungsreformen für die derzeitigen Schwächen des Bildungssystems verantwortlich sind«.
Der Leser mag sich über die Dignität solcher Gedankengänge ein eigenes Bild machen; die eigene Lektüre dieser erfrischend para-akademischen Behandlung des Bildungsthemas dürfte sich allemal lohnen. Hier sollte lediglich herausgestellt werden, dass bei aller Negativität bisheriger Erfahrungen, die Zeit wohl reif ist für eine auf das Heute bezogene Wiedergewinnung des von mir als klassisch begriffenen Bildungsbegriffes.
Die Klassizität des Bildungsbegriffes – gleiche Grundstruktur bei jeweils zeitspezifischen Sprachen – macht es in der Lehrerbildung ausbildungsdidaktisch eigentlich nicht nötig, unbedingt mit den Texten von Humboldt im Sinne von bildungstheoretischen Meistererzählungen zu beginnen, wenn auch diesen Neuanfängen ein besonderer Reiz innewohnt. Nach konstruktivistischen Diktum dürften hier lernbiographisch auch unterschiedliche Zugangsneigungen bestehen.
Ob nun nach Humboldt in Bildung das Ineinander von Allgemeinen und Besonderem, von Individuum und Gemeinschaft, »die Formung und Entfaltung des Subjektes nach allen Seiten durch Aneignung und Beförderung dessen, was das 18.Jahrhundert emphatisch Menschheit nannte«, zu sehen ist [Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Zusammenfassung zit. nach Liessmann 2007, 56f] oder ob nach Hegel mit Bildung die Entwicklung eines individuellen Bewußtseins durch Arbeit an sich selbst und der Welt eingebunden in das Programm der Menschwerdung gemeint ist (Phänomenologie des Geistes), oder – um eine dritte Variante zu bemühen – ob wir mit Habermas die Protagonisten der personalen und sozialen Identität im Drama der Bildung auftreten lassen (Theorien zur Sozialisation), strukturell grundlegend ist eine andauernde Prozeßhaftigkeit in der nur vorüber gehend aufhebbaren Dialektik von Subjekt und Welt, die stetig erneute Beunruhigung durch das Aufbrechen scheinbar gefundener Versöhnung. Diese Grundproblematik findet sich dann in der Abfolge der Zeiten immer wieder in neuen Versionen als Aufgabe von Bildung und Erziehung reformuliert: etwa bei der Suche nach Grundwerten (von Hentig) oder bei der Forderung nach einem neu zu gewinnenden Begriff der Allgemeinbildung (Klafki). Inzwischen versucht sich ein neuer Aspirant als Thronfolger in der Bildungsdiskussion zu etablieren: die so genannte Standardorientierung. Während jedoch von Hentig und Klafki im Kontext ihres geisteswissenschaftlichen Ansatzes auch heute noch repektabel erscheinen, wird die Standardorientierung, die in ihrer Herkunft auf eine empirische Elternschaft verweist, ihre bildungstheoretische Erbberechtigung erst noch erweisen müssen. Zu viele Indizien deuten daraufhin, dass Bildung im o.a. Sinne nicht mehr die entscheidende Leitfigur ist, dass in der Dialektik von Subjekt und Welt das kritische Potenzial einer personalen Identität unterbelichtet ist und einer Affirmation an den angeblichen Zeitgeist das Wort geredet wird.
»Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln«
hält Faust bekanntlich dem schulmeisterlichen Wagner entgegen.
Wenn es in einer amtlichen Erläuterung in Nordrhein-Westfalen zu den Kopfnoten heißt. »Arbeits- und Sozialkompetenz zu entwickeln umfasst [!] Bildung und Erziehung und ist Aufgabe aller Fächer.« (Beilage SCHULE NRW 08/07, S. 3 www.call-nrw.de/broschuerenservice/download/830/Beilage Abl 08_07 (3).pdf), wird deutlich, worum es heute geht: Bildung ist nicht mehr das höchste Ziel oder die regulative Idee; Bildung ist in eine hintere Bank versetzt.
Damit ist ein negativer Höhepunkt in der Entwicklung der Bildungsdebatte gekennzeichnet.
In Anlehnung an Liessmann möchte ich in idealtypischer Absicht drei Formen der Bildungsdebatte unterscheiden, wobei sich in der Gegenwart neben der jeweils jüngereen Gestalt jeweils auch der bzw. die Vorläufer finden lassen.
Die erste Form der Debatte entzündete sich auf dem aufsteigenden Wege zu einer Bildungsgesellschaft an der Diskrepanz von anmaßenden Bildungsideal und erbärmlicher schulischer Wirklichkeit; solche Diskussionen haben wohl bereits in Nietzsche einen ihrer prominentesten Wortführer gefunden. Auf der Grundlage seiner Metaphysik und seines Menschenbildes hat er wohl grundsätzlich an der Möglichkeit einer Überbrückung dieser Kluft für alle gezweifelt. Gleichwohl dürften seine Unterscheidung wie die zwischen einer »Anstalt der Bildung und Anstalten der Lebensnoth« auch heute den analytischer Blick auf gegenwärtige Verhältnisse schärfen. Der Verzicht, hier in Nietzsche Zitaten von atemberaubender Aktualität zu schwelgen, fällt schwer. Als entscheidend bleibt festzuhalten, dass bei diesem Debattentypus der Diskrepanz grundsätzlich an der Idee der Bildung festgehalten und nicht die Idee durch eine schlechte Implementation diskreditiert wird.
Eine zweite Form der Debatte entwickelt sich um einen diagnostizierten Verfall der Bildung und wird begriffsgeschichtlich wohl auf Dauer mit Th. W. Adornos kleinem, paradigmatischen Text Theorie der Halbbildung (1959) verbunden bleiben.
Bildung im o.a. Sinne als geistige Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt degeneriert zu einem bloßem Konsumverhalten von Kulturgütern: »Im Klima der Halbbildung überdauern die wahrhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehaltes und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten.«
Für die Schulen bedeutete dies vielfach »die Reduktion eines Kanons auf einige Schlagworte, die man rasch aufbereitet, sich rasch einverleibt, ohne dabei irgendeinen Zusammenhang verstehen zu können […] Die Elemente von Bildung sind noch da, aber sie sind dem Bewußtsein äußerlich geworden. Wo kaum noch etwas verstanden wird, muß es umso hartnäckiger behauptet werden [heute neigt man zu sagen: präsentiert werden …] Viel von dem, was unter dem Titel Didaktik rubrizierte, gehorchte einem einfachen Prinzip: die Inhalte klassischer Bildung zu einem äußerlichen, auf die vermeintlichen Bedürfnisse der Jugendlichen zugeschnittenen, halbwegs attraktiven Sammelsurium von Reizen, Zugängen, Anregungen und Aufhängern verkommen zu lassen« [Liessmann 2007, 68f].
Der Debattentyp der Klage des Verfalls und der Korruption von Bildung wird nach Liessmann gegenwärtig durch einen dritten Typus, der Debatte der Unbildung, überlagert. Vor dem Hintergrund der unsäglichen Rhetorik von der Wissensgesellschaft diagnostiziert Liessmann den Verzicht auf Bildung als normative und regulative Idee. »Wer sich auf der Höhe der Zeit wähnt, spricht deshalb heute nicht mehr von Bildung, die sich immer an einem Individuum und der Entfaltung seiner Potentiale orientierte, sondern von Wissensmanagement« [Liessmann 2007, 53]. Die mediale Wissensshow im Multiple-choice-Verfahren wird zum Lebensmodell: Sachverhalte kommen einem bekannt vor, man hat schon davon gehört, man erahnt und erinnert sich dunkel, und manchmal kommt man auch nicht darum herum zuzugeben: »Ich weiß es!« [Liessmann 2007, 14].
Bei dieser Überlegung drängte sich eine ungefähre Erinnerung an ein Schillerzitat in das Gedächtnis: »Wo die Not wächst, da wächst das Rettende auch.« Relikte bildungsbürgerlicher Gewissenhaftigkeit drängten zur Überprüfung des Zitates in einer Internet-Recherche. Das Schillerzitat ist bis zur jetzigen Niederschrift noch nicht verifiziert, aber unter den ersten genannten URLs findet sich der Hinweis, Adorno habe angeblich den o.a. Satz auf dem Totenbett gesagt. Aber was haben Zitate, was haben Ihre Zuschreibungen eigentlich mit Bildung zu tun?
Von Hentig beendete seinen Essay über Bildung mit einem Richtung weisenden und zugleich pragmatischen Hinweis: »Die Fächer der herkömmlichen Schule sind brauchbare Anlässe für Bildung«. Ich würde behaupten: Wir können in der Regel einfach gar nicht anders, als diesen Weg zu gehen. Von Hentig versucht seine These am Beispiel der Fächer Mathematik und Deutsch zu plausibilisieren. Für wie gelungen man diesen Versuch auch hält, es sollte des Schweißes edler Informatiker wert sein, einmal zu fragen, wie das Fach Informatik Anlass zur Bildung, zur geistigen Auseinandersetzung eines Subjektes mit einer durch Informationssysteme geprägten und als Wissensgesellschaft ideologisierten Welt sein könnte, eines Subjektes, das sich so seine Freiheiten gegenüber den Diktaten des Zeitgeistes erhält.
Adorno, Theodor W (1959): Theorie der Halbbildung. Frankfurt: Suhrkamp
[ständige Neuauflagen]
Liessmann, Konrad Paul (2007): Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der
Wissensgesellschaft. Wien: Paul Zsolnay Verlag