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Ausgabe 18 vom 1. Mai 2007 (als PDF):

24. April 2007 – Christian F. Görlich

Michel Foucault zeigt Wirkung – auch in der Lehrerbildung?

Nötige Begriffsklärungen in gegenwärtigen Diskursen

 

Philosophische Positionierung

Angesichts sublimer Herrschaftsmechanismen durch die Verwendung bestimmter Begriffe in Bildungsbürokratie und Lehrerbildung ist das hier vorgestellte Buch »Pädagogisches Glossar der Gegenwart« nicht nur höchst willkommen, es ist überfällig. Foucault zeigt Wirkung - vorerst zumindest im universitären Bereich, in Zukunft vielleicht auch in der Lehrerbildung?

Die Herausgeber, Agnieszka Dzierzbicka und Alfred Schirlbauer, benutzen im expliziten Rückgriff auf Michel Foucault den Begriff des Regierens in einem weiten Sinne, der über die Sphäre des Staates und der Politik hinausreicht und »die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken,Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten« (Foucault 1996, 118f) umfasst. Insoweit über solche Regierungsmechanismen auch Leiden produziert werden kann, ist die hier thematisierte Frage nach den jeweils verwendeten Begriffen nicht nur eine theoretische, sondern für die eventuell Betroffenen auch eine existentielle. Die folgenden Notizen möchten deshalb auch komplementär zu Meinert Meyers Ausführungen zur Allgemeinbildung gelesen werden (vgl. Görlich, If Fase März 2007 – rhinodidactics.de/Ausgaben/ausgabe-16.pdf). Während in der Reflexion auf die Allgemeinbildung der Versuch gesehen werden kann, die pädagogisch relevante Gegenwart aus einer Zentralperspektive – gleichsam von oben – auf den Begriff zu bringen, wird in dem Glossar von Dzierzbicka und Schirlbauer eher von unten eine erfrischend kritische, z.T. despektierliche Analyse begrifflichen Denkens und Argumentierens versucht. Über eine Verdichtung solch mikrostruktureller – mentaler und verbaler – Eigentümlichkeiten lassen sich dann auch Rückschlüsse über die gegenwärtigen »Diskurse« zur Lehrerbildung ziehen. Es sei angemerkt, dass hier und im folgenden »Diskurs« immer im Sinne Foucaults gemeint ist und nicht etwa mit dem Begriff bei Habermas verwechselt werden sollte. Unverständlich bleibt, warum die Herausgeber diesen geschundenen Begriff des »Diskurses« nicht selbst unter Zeitgeistverdacht gestellt haben.


Kasten 1
Agnieszka Dzierzbicka,
Alfred Schirlbauer (Hg.):
Pädagogisches Glossar der Gegenwart.
Von Autonomie bis Wissensmanagement.
Wien: Löcker Verlag 2006

Begriffe:
Autonomie, Bildungsforschung, Bildungsstandard, Blended Learning, Brain train, Chancengleichheit, Dienstleistung, Diversity Management, Employability, Entrepreneurship, ETCTS, Exezellenz, Flexibilität, Gender Mainstreaming, Humanressource, Innovation, Integration, Lebenslanges Lernen, Mobilität, Modularisierung, Netzwerk, Neue Medien, PISA-Studie, Qualitätsmanagement, Queere Bildung, Reform, Soft Skills, Standort, Systemsteuerung, Unlearning, Vereinarungskultur, Wettbewerb, Wissensgesellschaft, Wissensmanagement.

Unter eben einem solchen Zeitgeistverdacht reflektieren über 30 vorwiegend österreichische, aber auch deutsche und schweizerische Autorinnen und Autoren insgesamt 34 Begriffe von Autonomie bis Wissensmanagement (vgl. Kasten 1). Die sofort in den Blick fallende Häufung anglo-amerikanischer Begriffe veranlasst eine der Autorinnen – allerdings nur rhetorisch – nach dem Sinn einer solchen verbalen und vom Geist der Wirtschaft bestimmten »Selbstkolonalisierung« fragen.

Drei Beispiele

Bildungsstandards, Blended Learning, Modularisierung

Die folgende Paraphrasen von drei Begriffsanalysen sind höchst selektiv und in der Verdichtung bereits sehr verdichteter Texte nicht unproblematisch; gleichwohl erheben sie den Anspruch, an den gegenwärtigen Diskurs über die Zukunft der Lehrerbildung heranzuführen. Sie sind zugleich mit dem Appell verbunden, den gegenwärtigen Jargon nicht nur sprach- und ideologiekritisch, sondern auch mit Blick auf seinen Steuerungsanspruch zu hinterfragen und sich gegebenenfalls diesem Anspruch – selbst auf der Ebene eines bloßen Mitläufers bzw. Mitsprechers – zu verweigern.

Bildungsstandards

von Barbara Schöne (In Dzierzbicka und Schirlbauer a.a.O. S. 31-38)

Dass die AutorInnen des Glossars selbst nicht die Anglizismen meiden, sei im Folgendem an einem längeren Zitat der Bonner Professorin Barbara Schneider belegt – oder sollte es nur ein ironisierendes Sprachspiel sein?

Die von der OECD in Auftrag gegebenen large-scale-assessments haben es schließlich an das Tageslicht […] gebracht: Die deutschen und österreichischen Schülerinnen und Schüler müssen im internationalen Wettbewerb der Schulsysteme als under achiever gelten. Der Befund kränkte umso mehr, als man sich mit der nicht eben ehrenvollen Diagnose konfrontieren lassen musste, Kinder bildungsferner Milieus und jene mit Migrationshintergrund durch perfektionierte Selektionsmechanismen von der Partizipation an weiterführender Schulbildung und den daraus resultierenden sozioökonomischen Optionen zu exkludieren. Die Zusatzstudie PISA-E stellte darüber hinaus gravierende Leistungsdifferenzen zwischen den einzelnen deutschen Bundesländern fest. Dichter und Denker und Demokraten und nicht zuletzt die erziehungswissenschaftliche Zunft waren gründlich blamiert. Konkurrenz und die Orientierung an erfolgreiche(re)n Ländern sowohl auf dem Wirtschafts- als auch auf dem Bildungssektor haben lange vor der Erfindung der knowledge driven economy, nämlich schon seit der Entstehung der Pflichtschulsysteme der modernen Staaten, gute Tradition. Die Anfänge der Bildungsspionage, gewissermaßen eine frühe und noch dilettantisch anmutende Form des Bildungsbenchmarkings, decken sich geradezu und keineswegs zufällig mit denen der Industriespionage. […]

Nach diesem Rückblick, in dem W. von Humboldt und Mdm.de Staël als interessante historische Quellen benannt werden, lenkt Schöne den Blick wieder auf die gegenwärtige Frage nach den Faktoren, die Glanz und Elend nationaler Bildungssysteme bedingen könnten. Man wäre sich sehr schnell einig gewesen, dass »die systematische Qualitätssicherung des Rätsels Lösung« sei. Trotz anhaltender fachwissenschaftlicher Zweifel erhob die Politik über die Kultusministerkonferenz 2003 die Entwicklung nationaler Bildungsstandards im Sinne von verbindlichen, operationaliserbaren und auf Testskalen abbildbaren Anforderungen an das Lehren und Lernen zum Programm.

Nach B. Schneider disqualifizieren nicht wenige Kritiker »die neue Wortschöpfung als sprachliche Missgeburt und fordern, dieser illegitime Abkömmling der Verbindung eines Mangels an bildungstheoretischer Urteilskraft und Hörigkeit gegenüber Politik und Wirtschaft möge durch andere Begriffe wie Leistungs- oder Lernstandards ersetzt werden[…]. Gleichfalls nicht wenige Stimmen warnen vor dem Etikettenschwindel und der Hochstapelei, die mit dieser »Verbalkreatur« betrieben würden: Das Label Bildungsstandard suggeriere, dass in den damit assoziierten Prozeduren dasjenige evaluiert werde, was schlechterdings gar nicht gemessen werden könne, nämlich (die) Bildung. In solchen Einsprüchen scheint sich der anglo-amerikanische Import als semantischer Rachefeldzug gegen die letzten Bastionen der sich auf den Bildungsbegriff konzentrierenden Pädagogik darzustellen. Im Zuge einer feindlichen Übernahme bemächtige sich, so lassen sich die Positionen zusammenfassen, der Begriff des Standards ausgerechnet jenes – unübersetzbaren – Begriffs, dem sich das deutschsprachige pädagogische Denken verdanke.« Süffisant wird diese deutliche Kritik noch ins Metaphorische gesteigert.

Bei aller theoriegeleiteten, sich teilweise ins Polemische steigernden Kritik akzeptiert Schöne aber auch die bildungspolitischen Intentionen der Befürworter der Bildungsstandards: eine flächendeckende Effizienz des Bildungssystems angesichts knapper öffentlicher Kassen und angesichts sich verschärfender privatwirtschaftlicher Wettbewerbssituationen. Wohl keiner werde der Absicht widersprechen, durch entsprechende Maßnahmen auch die Kinder bildungsferner Milieus mehr als bisher und überall zu erreichen.

In dem von ihr thematisierten Streit zwischen Kritikern und Befürwortern von Bildungsstandards sieht B.Schöne möglicherweise einen Paradigmenwechsel in den deutschsprachigen Bildungssystemen. Die Formulierung von Standards, also von normativen Vorgaben an den Bildungsgang der jüngeren Generation, ist zunächst überhaupt kein Novum. Vielmehr lässt sich mit der Kanonisierung des kulturellen Gedächtnisses im Medium des Textes die Festschreibung von Lerninhalten und -zielen, der jetzt so bezeichneten content standards, bis auf den Beginn der abendländischen Bildungstradition(en) zurückführen. Als ein prägnantes Beispiel dafür benennt Schöne das preußische »Abiturientenprüftnesreglement« von 1834.

Der Frage: »Also doch viel Lärm um nichts?« widerspricht Schöne jedoch heftig: »Mitnichten; denn diese alte, doch erst neuerdings reflektierte Tradition der Kanonisierung sowie der aus dieser generierten Praxen der Standardisierung und Prozeduralisierung wird nunmehr durch ein völlig anderes Konzept des Standards abgelöst - der content standard stellt nicht mehr zufrieden. Im Kerncurriculum findet der Bildungskanon sein ihm weder ebenbürtig anmutendes noch fachlich sympathisches, aber immerhin marktgerechtes und daher bei (fast) allen Fraktionen durchsetzbares Nachfolgemodell. In Analogie zu marktwirtschaftlichen Konzepten von Zieldefinition und -kontrolle wird den input-orientierten, mit solchen antiquierten Instrumentarien wie der Selbstzertifizierung arbeitenden und die sozialromantischen Phantasien von individuellen Lernbiographien perpetuierenden Standards eine kategorische Absage erteilt. An ihre Stelle sollen output-orientierte, also an objektive Rechenschaftssysteme rückgebundene peformance standards treten, die auf der Grundlage der Beschreibung basaler Fähigkeiten die Bildungsgrundversorgung sicherstellen sollen.«

B. Schöne schließt ihren Artikel mit einem eher skeptischen Blick auf die gegenwärtige Forschung: »Die Forschungen der letzten drei Jahre scheinen die Skepsis gegenüber der kurzfristigen und mit unrealistischen Hoffnungen befrachteten Einführung von output-orientierten Bildungsstandards zu erhärten: Empirische Belege für die Qualitätssteigerung der Schulbildung durch Bildungsstandards stehen nach wie vor aus. […] Die positiven Prognosen stellen sich bisher als unbewiesen – sprich: als bildungspolitische Visionen – heraus, während Nebenwirkungen wie das teaching to the test und didaktische Reduktion, auch die Marginalisierung nicht standardisierter Schulfächer zunehmend als Problem erkannt werden. Auch korrigieren tatsächliche Leistungssteigerungen infolge der Implementierung von output-orientierten Bildungsstandards offenbar nicht die bestehenden Benachteiligungen ethnischer und bildungsferner Gruppen.«

Lesen

Agnieszka Dzierzbicka (Hrsg.), Alfred Schirlbauer (Hrsg.): Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement
ISBN-13: 978-3854094388

Blended Learning

von Ines M. Breinbauer (In Dzierzbicka und Schirlbauer a.a.O. S. 39-49)

Den Whiskytrinkern unter den LeserInnen wird die Unterscheidung von blended und single (malt) vertraut sein; während die Trinkergemeinde jedoch mit blended eher ein billigeres Massenprodukt assoziiert und den single wertschätzt, scheinen die Pädagogen eher auf blended learning zu setzen. Ines Brainbauer hat dafür auch eine Erklärung, die die Praktiker aus eigener Erfahrung bestätigen dürften:

Mit zunehmender Ernüchterung bezüglich der Leistungsfähigkeit von eLearning, insbesondere der Unterschätzung des Missverhältnisses der Kosten des Aufbaus von Applikationen zum Mehrwert gegenüber herkömmlichen Lehrmethoden, taucht ein Begriff auf, der die Überschätzung von eLearning weniger naiv erscheinen lässt: Blended Learning. Die Schwierigkeiten mancher Autorensysteme, individuell auf Lernende einzugehen, in Kombination mit der Erfahrung, dass die Mehrheit der eLearning-Interessierten […] sich mit ihren Lernpartnern an realen Orten treffen […] möchten, führt zu der nahe liegenden Idee, eine didaktisch sinnvolle Verknüpfung von traditionellem Klassenzimmerlernen und virtuellem bzw. Online-Lernen auf der Basis neuer Informations- und Kommunikationsmedien anzustreben. Statt elektronischem Lernen wird die ideale Mischung aus klassischen und neuen Organisationsformen, Methoden und Medien gelobt: Face-to-Face-Arrangements (wie Seminare und Konferenzen) werden mit asynchronen und synchronen Medienarrangements verknüpft; Intra-, Internet, CBT und WBT, Audio und Video, Handouts und Bücher haben ihren gleichberechtigten Platz; Selbstlernphasen wechseln mit Situationen, in denen der Lehrende den Ton angibt, und daneben gibt es Trainer-Lerner-, Lerner-Mentor-, Peer-to-Peer- oder Team-Lemsituationen; kurz: Alles ist möglich. […] Als Ausdruck der Abkehr vom eLearning-Hype angetreten, wird Blended Learning mittlerweile selbst zum Hype.
Kasten 2
Ulrich Böckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hg.):
Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Wissensmanagement.
Frankfurt/M: SV 2004
Pädagogisch besonders interessante Begriffe (in Auswahl):
Aktivierung, Beratung,Erlebnis, Evaluation, Gen, Gender, Globalisierung, Intelligenz, Kontrakt, Kreativität, Lebenslanges Lernen, Mediation, Monitoring, Nachhaltigkeit, Normalität, Partizipation, Projekt, Selbstverantwortung, Synergie, Test, Virtualität, Wissen, Zivilgesellschaft

Diese Feststellung ist theoretisch nur scheinbar trivial. Die Wiener Professorin versteht es, der Thematik durch Nachfragen eine provozierende Tiefe zu geben. Eigentlich sollten ja die gemixten Phasen »ineinander greifen wie Rädchen eines Getriebes. [...] Die Gütekriterien der Lernorganisation sind dabei Anpassungsfähigkeit an verschiedene Kontextbedingungen (Lehr- /Lernziele, Lehrinhalte, Zielgruppen, technische und andere Ressourcen), Flexibilität im Dienst der Erreichung (vorgeblich) individueller Lernziele. Auffallend ist, wie plakativ eLearning und traditionelles Lernen als die zwei Lernkonzepte einander gegenübergestellt werden (ähnlich plakativ wird in manchen älteren Didaktiken [der] Frontalunterricht dem Gruppenunterricht […]), obwohl - aus lerntheoretischer Perspektive – das vermeintlich so Divergente mehr Ähnlichkeit aufweisen kann als vermutet: Können doch sowohl traditionelles Klassenzimmerlernen als auch eLearning – in lerntheoretischer Hinsicht – ebenso gut behavioristisch oder kognitivistisch oder konstruktivistisch […] modelliert sein. Im strengen Sinn könnte das, was als Integration ausgegeben wird, lerntheoretisch bloß more of the same bedeuten.«

In Skepsis auch gegenüber einem gemäßigten Konstruktivismus lautet die provozierende These, dass es wohl nie eine zufrieden stellende Theorie des Lernen geben werde. An die Stelle einer theoretischen Begründung tritt eine Begründung aus der Erfahrung. »Fragen der Mediendidaktik werden nicht mehr mit hohem emotionalem Einsatz als Fragen der Substitution personaler Lehre diskutiert.« Breinbauer zitiert hier zustimmend – wenn auch nicht frei von Ironie – Michael Kerres: »Es gehe nicht mehr um die Überlegenheit bestimmter Medien und didaktischer Methoden, sondern um deren Kombination. Es geht also letztlich darum, die Vorteile möglicher Varianten so zu verknüpfen, dass pädagogische Zielvorstellungen ebenso wie Effizienzkriterien so weit wie möglich erreicht werden können. Die Praxis hat gezeigt, dass solche Optimierungen – aus pädagogischer wie ökonomischer Sicht gleichermaßen – nur möglich werden, wenn eine flexible Kombination von Varianten gefunden wird […]. Interessant an dieser Argumentation ist, dass sie sich nicht auf systematische Evaluationsprozesse bezieht, sondern auf das, was die Praxis zeigt

Auch blended learning ist kein Novum. Das Resümee endet nicht von ungefähr mit einem alt bekannten Goethe-Zitat: Angesichts der Versuche der Psychologie, »den Lernvorgang des Lernenden theoretisch zu erfassen (vom Behaviorismus über den Kognitivismus bis zum Konstruktivismus) und dieser lerntheoretischen Modellierung didaktisch zu entsprechen […], die ihren vermeintlichen Höhepunkt (tatsächlich ihr theoretisches Grab[…]) in so genannten konstruktivistischen Lerntheorien gefunden haben, geht Medienpädagogik mit dem Nichtwissen über menschliches Lernen nunmehr paradox offensiv um […]: Mangels verlässlicher theoretischer Modellvorstellungen über gelingende Lehr-Lern-Prozesse wird die harmonische Vielfalt angeboten und tentativ erprobt, nach dem Motto: Wer vieles bringt, wird manchen etwas bringen.«

Modularisierung

von Ulrich Binder (In Dzierzbicka und Schirlbauer a.a.O. S. 183-190)

Selbst wohlwollende Beobachter der Lehrerbildung in NRW zeigen Verständnis, dass viele Akteure über die von der Politik über die Bezirksregierungen durchgereichten Veränderungen von Rahmenbedingungen und Strukturen als die operative Arbeit störend empfinden. Gerade erst sind die ineffizienten - weil vorher sagbaren - Erfahrungen mit der "Integration" verarbeitet, führt der Begriff der "Modularisierung" die Hitliste der Heil Versprechenden Kurzformeln an. Ist das Wissen ein Trost, dass anderswo ähnliche Diskussionen mit vergleichbarer Vehemenz geführt werden?

Modularisierung – Sackgasse oder Königsweg? so fragt auch der Erziehungswissenschaftler aus Bern, Ulrich Binder. Er verweist gleich daraufhin, dass bei aller Brisanz der Diskussion in weiten Bereichen schon Fakten geschaffen wurden: »Das Suffix isierung hat [inzwischen] gegriffen.«

Auch in dieser Debatte wird mit heftiger Sprache gestritten und an Polemik nicht gespart: Alter Wein in neuen Schläuchen, begriffliche Stopfgans zeitgeistiger Verfallsindikator und Ökonomisierung der Bildung oder behübschende Neuverschlagwortung.

Binder glaubt in diesen Debatten drei grundsätzliche und in der Pädagogik immer wieder kehrende diskussionsbestimmende Kraftfelder auszumachen, die sich jeweils an den Begriffen Variation, Progression und Tradition orientieren. Je nach Positionierung wird dann Modularisierung als eine Variante, als Fortschritt oder als Verfall begriffen. Ziel des Autors sei jedoch nicht Begriffshuberei, sondern angesichts der Inhärenzen des Begriffs Möglichkeiten des Umgangs mit ihm zu suchen und zu bilanzieren.

Die Herkunft des Begriffs Modul aus dem Bereich der Technik dürfte mittlerweile zum Allgemeinwissen gehören. Hierbei muss nach Binder daran erinnert werden, dass dem Begriff Modul als Einzelteil eine eigene Logik innewohnt, »dass klar sein muss, was das anzupeilende Gesamtsystem ist. […] Pädagogisch gewendet meinen Module und modulare Systeme einen sich aus inhaltlich-thematischen Lehr- und Lernblöcken ergebenden Bildungsverbund«. In der Grundintention schwinge das Verlangen nach Strukturierung und Ordnung mit, nach einer Art der vertretbaren Machbarkeit, der Steuerbarkeit und der Transparenz. »Diverseste pädagogische Paradoxa und Aporien sollen so einer Auflösung zugeführt werden. Diese Absicht samt den einhergehenden Gegenreden ist dabei keineswegs neu« Binder erinnert hier »unter anderem an die konfliktreiche Begegnung einer philosophisch und/oder theologisch inspirierten metaphysischen Pädagogik mit dem Empirismus des späten 17. und des 18. Jahrhunderts«, an die »kulturkämpferische Auseinandersetzung um Entfremdungstheorien im 19. und 20. Jahrhundert« und in der Gegenwart an die [im Seminar Hamm auch mit Niklas Luhmann geführte] Diskussion um das »Technologiedefizit der Pädagogik«. Auch in der Sache stellen Modularisierungen keine Novität dar. Binder verweist in einem weiten Sinne auf die Strukturierungsversuche des Jesuitenordens im 16. Jahrhundert oder die wegweisende Entwrfe im Frankreich des 18. Jahrhunderts (vgl. Condorcet 1792), »die als Versuche interpretiert werden könnten, das Schulwesen und Bildungssystem der Vergleichbarkeit, der Steuerbarkeit und der pragmatischen Umsetzbarkeit wegen zu gliedern. Was also ist das Neue? Vom Fach zum Modul lautet der griffige Slogan, der verdeutlichen soll: Es bleibe eben nicht alles beim Alten. Ein Modul ist fächerübergreifend, vernetzt also verschiedene Gebiete und Abteilungen und verbindet zudem verschiedene Lehr- und Lernformen. Das fördert das Denken in Zusammenhängen. »Die Projektmethode ist hierbei die Mutter […] diese Prinzipien fußen zu nicht unwesentlichen Teilen auf reformpädagogischem Gedankengut.« Die weitere Rhetorik in diesem Zusammenhang sollte bekannt sein: selbstbestimmtes und autonomes Lernen, Erwerb von Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Selbstkompetenz, siehe auch frühere Begriffe wie Basiskompetenzen oder Schlüsselqualifikationen. »Diese Begrifflichkeiten beherrschen seit längerem die Diskurse. Dabei wird aber de facto selten Neuland beschritten [...] Alles in allem entbehrt die Ansicht, bei Modularisierung komme es bloß zu einer Neuverpackung und -anpreisung von Altbekanntem, nicht jeglicher Grundlage. […] Im Binnengewässer also ein Im-Kreis-Rudern.« Nach Binder greifen die Veränderungen gewissermaßen erst im Anschluss: »Unter wirklich neu ist die einhergehende Zertifizierung zu rubrizieren.[…] Durch maßgeschneiderte Module - in Kombination und Reihenfolge prinzipiell variabel – soll der Individualität von Bildungsbiographien Rechnung getragen werden. Dazu muss eine jeweilige detaillierte Modulbeschreibung vorliegen; nicht zuletzt wird mit Modularisierung derart verfolgt, klarere Lehr- und Lernziele zu formulieren, die insgesamt in concreto evaluierbare Kenntnisse und Fähigkeiten präferieren.« [Und genau diese hier gelobte Zertifizierung ist bei gleichzeitiger Forderung nach Teilmodulsarisierung in NRW für die Zweite Phase der Lehrerbildung expressis verbis nicht zugelassen.]

Dieser zitierten, grundsätzlich positiven Sichtweise der Modularisierung folgt jedoch die Kritik auf dem Fuß. »Das Ganze ist […] mehr als die Summe seiner Teile, ist zudem mehr als normiertes Wissen. Und Bildung als Ware - als Rendite - zu degradieren, die fast ausschließlich dem Markt in die Hände spielt, das ist Verrat an humanistischen Idealen. Herangebildet werden Menschen mit Ellbogentechnik statt Kritikfähigkeit. Wo doch das vornehmste Ziel der pädagogischen Institutionen [ist], dass sie Bildung vermitteln, worunter auch zu verstehen ist, die in der Tradition erreichte Wertigkeit der Kultur bzw. die Höhe der konkret gewordenen Vernunft zu wahren […]. Summa summarum steht das Bildungssystem im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Erwartung und pädagogischem Auftrag und Gesellschaft und Öffentlichkeit sollten nicht dauernd versuchen, dem Bildungssystem neue Aufgaben unabhängig ihrer pädagogischen Relevanz aufzuladen […]. - Eine solche klassische Sicht von Bildung steht mit Modularisierungsaspirationen auf Kriegsfuß. Jenen fehlt es schlicht am Kern der Bildung: an Immanenz und am Subjekt. Auch die prinzipiell ja angepeilte Diesseitigkeit, die Konkretion und die rationale Funktionalität, wie sie mit Modularisierung einhergehen soll, steht einer Bildungsauffassung im Wege, die als Zustand des Bewusstseins, als Prozess des Geistes, als Selbstverwirklichung des Menschen in Freiheit, als Verstandes- und Herzensbildung - als Selbstbestimmung - gedacht ist«.

Nur fragt Binder: Gibt es wirklich Grund zur Larmoyanz? »Ist es nicht so, dass inhaltlich ohnedies kaum Steine ins Rollen kommen […] Zu konstatieren ist eher, dass pädagogische Traditionen eine tatsächlich radikale Verwirklichung von diversen Aspirationen, wie sie sich in Modularisierung vorgeblich vereinen, verhindern." Denn auch die Befürworter der Modularisierung seien nicht frei vom Rucksack der neuzeitlich-klassischen Tradition. Das zeige sich vor allem daran, dass nachträglich an einen aus Arbeitswelt und Technik übernommenen Terminus pädagogische Relativierungen und Idealisierungen montiert werden, um vermeintliche Leerformeln zu füllen: "mit welchen Begrifflichkeiten auch immer operiert wird, Pädagogik hat es um mehr zu gehen. Daran ist schwerlich vorbeizukommen. Vielleicht noch bei Strukturdebatten, da lässt sich beiläufig unpädagogisch verfahren […]. Und spätestens, wenn die geweihte Bühne der Bildung betreten wird - wenn es also um das Wie/Wofür/Wer-mit-Wem usw. usf. in den Modulen selbst geht -, wird dreierlei sichtbar. Erstens: Die gedachte Bipolarität von öffentlichem und pädagogischem Auftrag ist nach wie vor [vorhanden]. Zweitens: Reformen waren und sind en vouge; Pädagogik war so gesehen immer Reformpädagogik. Streitbar dabei, ob sie nun echte Änderungen vollzog oder diese vielleicht doch mehr justierenden Wellenbewegungen folgten. Aber eines ist auffällig: Das Abgehen von pädagogischen Idealen ist oftmalig gerade semantisch möglich, nicht substanziell. Und drittens: Von da her sind wirklich drastische Veränderungen, wie sie durch Einführung von Neologismen wie Modularisierung mancherorts befürchtet werden, im Eigentlichen gar nicht zu erwarten.«

Ausblicke

Die obigen Ausführungen und Zitate wollen zum eigenen Nachlesen und eigener Urteilsbildung ermuntern, sie sollten aber auch in ihrer Funktionalität als Zeitgeistkritik verstanden werden. Zeitgeistkritik hat Tradition. Die Herausgeber verschweigen nicht, dass sie durch das »Glossar der Gegenwart« von Böckling, Krasmann und Lemke (siehe Kasten 2) zu ihrem ihrem Glossars pädagogischer Diskurse angeregt worden sind. Eigenständigkeit beanspruchend stehen sie gleichwohl nicht nur mit diesen Vordenkern in einer respektablen Tradition (siehe etwa auch Karl Jaspers, Jürgen Habermas). Das hier vorgestellte Buch von Dzierzbicka und Schirlbauer nutzt die literarischen Mittel der Überzeichnung zuweilen bis an die Grenzen der üblichen Höflichkeit. Dabei mehren die Herausgeber und Autoren auf der Inhaltsebene sicher auch das Wissen der Leser zu den ausgewählten und mehr oder weniger zentralen Begriffen der gegenwärtigen pädagogischen Diskurse, ihr eigentliches Anliegen dürfte aber auf der Ebene des Appells liegen, die verkrusteten Mechanismen in diesen herrschenden Diskursen zu hinterfragen und auch mit Blick auf den Lehrerberuf der Mentalität eines bloßen Unterrichtsbeamten gegenzusteuern. Möge Foucault weiter Wirkung zeigen!

Bibliographie


Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt/M 1996
Eintrag zu Michel Foucault in der deutschen Wikipedia de.wikipedia.org/wiki/Michel_Foucault
Die hier veröffentlichten Inhalte stellen keine Meinungsäußerungen der Studienseminare Hamm Arnsberg dar.
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