13. März 2009 – Meinert A. Meyer
Was ist eigentlich Bildungsgangforschung?
In einer Reihe von Artikeln in der rhino didactics werden
Fragen der Bildungsgangdidaktik, der Bildungsgangforschung und ihr Bezug zu
den Fachdidaktiken vorgestellt.
Die Bildungsgangdidaktik ist eine Handlungswissenschaft. Sie soll
die Ausbildung und Fortbildung von Lehrern befördern. Als
Handlungswissenschaft bedarf sie einer sie stützenden Forschung.
Bildungsgangforschung ist zunächst Lehr-Lern-Forschung
und damit für die Institution Schule Unterrichtsforschung. Englisch lässt
sich das besser sagen: Bildungsgangforschung ist research on learner
development and educational experience. Sie betont mit der Konzentration
auf den Gang der Bildung die Perspektive der Lernenden und
ist damit etwas anderes als die erziehungswissenschaftliche
Biographieforschung und zugleich mehr als die Bildungstheorie, die der
empirischen Flankierung bedarf und nicht nur normative Zielvorstellungen
diskutieren sollte. Bildungsgangforschung geht auf Arbeiten von Herwig
Blankertz (1927–1983) und seinen Schülerkreis zurück und ist u.a. im
Hamburger DFG-Graduiertenkolleg »Bildungsgangforschung« (2002–2008)
vorangetrieben worden.
Erziehung ist die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Tatsache
des menschlichen Lernens. Bildung ist mehr. Sie basiert auf Freiheit und
Selbstbestimmung. Die Förderung von Bildung bedarf deshalb einer Kultur, die
nicht nur die Reproduktion der Gesellschaft sichert, sondern
zugleich gesellschaftliche Transformation ermöglicht (vgl.
Antragstexte des Graduiertenkollegs –
www2.erzwiss.uni-hamburg.de/forschung/Gradkoll/gradkoll.htm,
Homepage des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg,
2002, 2004).
Fragestellungen der Bildungsgangforschung
- Uns interessiert Bildung als ein sozialisatorischer
Prozess, in dem sich das Selbst entwickelt, mit Krisen, Regressionen,
Brüchen, Entwicklungsschüben und Aufbrüchen.
- Uns interessieren die Perspektiven, die sich für die
Selbstregulation des Lernens unter der Bedingung
institutionalisierter Lehre eröffnen.
- Uns interessiert, wie sich Heranwachsende in diesen Lehr-Lern-Situationen
verhalten, wie sie ihre Lernaufgaben deuten und welche
Sinnkonstruktionen sie mit dem Unterricht verbinden.
- Uns interessiert, ob und wie die Heranwachsenden
Entwicklungsaufgaben, die gesellschaftliche Anforderungen
und Beschränkungen mit individuellen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten
vermitteln, wahrnehmen und bearbeiten.
- Uns interessiert, wie die Heranwachsenden nicht nur Wissen und Können,
sondern zugleich auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung
und zu verantwortlichem Handeln für eine Welt entwickeln,
die zunehmend komplexer und schwieriger wird.
Hypothese
Das Zusammenspiel von Anpassung und Selbstbestimmung ist
zentraler Fokus der Bildungsgangforschung, was zugleich eine grundlegende
methodologische Hypothese erlaubt:
Wenn es stimmt, dass die Sinnkonstruktionen der Lehrer
anders als diejenigen der Schülerinnen und Schüler sind, dann muss sich diese
unterschiedliche Konstruktion der gleichen Unterrichtswirklichkeit auch
qualitative wie quantitativ darstellen lassen. Besonders aufschlussreich für
diese Aufgabe sind Situationen, Szenen und Prozesse, in denen es zur
Bedeutungsaushandlung (negotiation of meaning) zwischen Lehrern und
Schülern kommt.
Die Analyse der unterrichtlichen Situationen, Szenen und Prozesse kann durch
unterrichtsbezogene Lehrer- und Schülerinterviews ergänzt warden. Für die
Analyse dieser Interviews bietet sich die dokumentarische Methode (Ralf
Bohnsack 2003) an.
Zielsetzung der Analysen sollte die Rekonstruktion der individuellen
Bildungsgänge der Schülerinnen und Schüler und der Lehrpersonen sein. Die
Rekonstruktion kann dann als Basis für die Ausgestaltung der
Bildungsgangdidaktik fungieren.
Literaturhinweise
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Band 6