1. August 2012
»Globalisierung« – Christian F. Görlich im Gespräch mit Meinert A.
Meyer
Christian F. Görlich
In einem Vorgespräch erfolgte eine Verständigung auf vier Themenkomplexe,
die das Gespräch gliedern sollten:
- Erörterung der Frage, ob wir eine Didaktik brauchen oder
ob es zu differenzieren gilt – etwa zwischen einer Allgemeinen Didaktik
mit universalen Geltungsanspruch und einer Didaktik nach dem von Christian
Görlich angedachten Hybridmodell
- Klärung des Verhältnisses der Bildungsgangdidaktik zur
bildungstheoretischen Didaktik Wolfgang Klafkis
- Klärung des Unterschiedes zwischen Entwicklungsaufgaben und
Bildungsaufgaben
- Prüfung der These, dass es die Diskussion befördern könnte, eine
Parallelisierung von ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung der
Menschen zu unterstellen und Entwicklungsaufgaben angesichts der
gegenwärtigen globalen Herausforderungen auch auf der phylogenetischen Ebene
zu entwickeln.
(1) Von der Möglichkeit einer Allgemeinen Didaktik mit universalen
Geltungsanspruch oder der Notwendigkeit eines didaktisches Hybridmodell
- Christian: Wie lässt sich das Verhältnis der
Bildungsgangdidaktik zur kritisch-konstruktiven Didaktik von Klafki
beschreiben, insbesondere unter dem Aspekt, ob Klafkis Didaktik-Modell
universalisierbar ist?
-
Meinert: Zunächst muss ich sagen, dass wir diese Frage im
Rahmen des Graduiertenkollegs und der Bildungsgangforschung noch nicht
diskutiert haben. Da haben wir ganz andere Schwerpunkte gesetzt:
Mikroaufnahmen – wie Ewald Terhart es nennt – von Einstellungen,
Sinnkonstruktionen, die die Schülerinnen und Schüler in den Unterricht
hineintragen, von ihren Einschätzungen und Bewertungen des Unterrichts
etc.
Das war und ist ein notwendiger Teil einer Bildungsgangdidaktik, aber längst
nicht alles. Insofern ist die Frage sinnvoll, wie eine Didaktik aussieht, die
vor dem Hintergrund der Globalisierung und das heißt, mit Blick auf die ganze
Welt, gestaltet wird.
Jetzt kommt der zweite Schritt. Was habe ich, Meinert Meyer, an Klafkis
Modell zu kritisieren? Da sage ich, dass die These, dass die Arbeit an den
epochal-typischen Schlüsselproblemen prinzipiell universalisierbar sei, mir
zu mager scheint. Das Modell Klafkis, das unter unserer Fragestellung nach
der Globalisierung der Allgemeinbildung zum nationalen Modell wird, müsste
für alle Kulturen gelten.
Meine Zurückweisung schließt nicht aus – hier kommt
Bildungsgangdidaktik ganz anders ins Spiel –, dass die Kinder und
Jugendlichen sich ein Bild ihrer ganzen Welt aufbauen, mit allen Vorzügen und
allen Negativa, mit ihrer eigenen Rolle in dieser Welt. Dieses Bild einer
neuen Welt kann sehr wohl globalisiert sein. Ich denke da an manche Hamburger
Schüler, die sich ganz selbstverständlich in der ganzen Welt bewegen. Sie
haben in gewisser Weise Globalisierung internalisiert. Das fängt damit an,
dass es für sie selbstverständlich ist, ausreichend Englisch zu lernen. Sie
wissen, dass man mit Englisch in der ganzen Welt zurecht kommt, mit Deutsch
aber nicht.
Wenn man nun Klafkis Ansatz zurückweist und sagt, die
Schlüsselproblem-Didaktik, die er entwickelt hat, reiche nicht für die
globalisierte Welt, sollte man auch sagen, was man sich stattdessen
vorstellt. Das mache ich durch Benennung von sechs Problemfeldern.
- Zur globalisierten Welt und zu ihrer Didaktik gehört also
Kommunikationsfähigkeit, und die ist wesentlich auf die »Lingua Franca« der
Moderne bezogen, auf das Englische.
- Viel schwieriger ist es anzugeben, was für ein Bild der eigenen Kultur
man braucht, sobald man akzeptiert hat, dass es nicht die eine
Weltkultur gibt. Das amerikanische Bild: »The world is a village«, und die
Amerikaner sind der Oberbürgermeister dieses Dorfes – zieht heute nicht
mehr. Wir leben heute in einer Welt, in der – global betrachtet –
die europäische und amerikanische Kultur neben andere Kulturen gestellt wird
– in Süd-Ost-Asien, insbesondere in China, Korea und Japan, im
arabischen und afrikanischen Raum.
- Spielen wir einfach einmal mit dem Ensemble dieser Kulturen. Man könnte
sich gut denken, dass jede dieser drei bzw. vier Kulturen, die schon als
einzelne national-übergreifend gedacht sind, ein Curriculum entwickelt, in
dem die lokale Kultur, in die man hinein wächst, Gegenstand des Unterrichts
wird, auch in der affektiven, emotionalen und ethischen Dimension, dass man
sich als Deutscher nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zum
Beispiel für das Zusammenwachsen Europas engagiert. Von dieser nationalen
Curriculumarbeit sind wir heute in Deutschland noch weit entfernt.
- Wir haben nur wenig Ahnung, was die Chinesen als ihre eigene Kultur
sehen. Da besteht gleichfalls ein immenser Forschungsbedarf. Nur ein
Beispiel: Ich sammle Sprüche von Chinesen über das Lernen. Sie sind sehr
interessant, weil da anders als bei uns gedacht wird. Aber über die Inhalte
der chinesischen Curricula kann ich nicht viel sagen. Die Verstehensprobleme
fangen schon mit dem Ausdruck für »China« an: Es nennt sich auf Chinesisch
das »Reich der Mitte«. Es ist deshalb für die Chinesen zugleich die Mitte der
Welt, Peking wiederum ist die Mitte des Reiches, der Platz des himmlischen
Friedens ist die Mitte Pekings, und da hängt das Bild von Mao am Haupteingang
des Nationalpalastes. Das Denken der Chinesen ist imposant und vermittelt ein
anderes Bild als das, was wir traditionell in Europa vermittelt bekommen
haben. Es fordert uns dazu auf, die Welt aus fremdartger Perspektive zu
denken.
- Der Versuch, die Welt aus chinesischer Perspektive zu denken, schließt
substanzielle Kritik an chinesischen Verhältnissen nicht aus. Zum Beispiel:
Wie geht man in China mit demokratischen Strukturen um? Wie verhält es sich
in China mit der Respektierung der Eltern durch die Kinder, dann auch der
Repräsentanten des Staates durch die »Bürger«? Mit Bezug auf die
Konfuzius-Tradition vermute ich recht deutliche Differenzen zur deutschen
Kultur. Man könnte also darüber nachdenken, wie erst das Curriculum aussehen
müsste, das für die Chinesen nicht den Eindruck erweckt, dass es ihnen
übergestülpt werden soll, sondern das von ihnen als ihr eigenes angesehen
wird, das aber zugleich für uns akzeptabel wäre.
- Die Welt aus arabischer Perspektive zu denken, stellt dann noch einmal
eine beträchtliche curriculare Herausforderung dar. Auch hierzu wissen wir
viel zu wenig. Was wir wissen beschränkt sich eigentlich darauf, dass wir
wissen, dass die Araber es leid sind, immer nur von den Amerikanern und
Europäern bekriegt zu werden. Sie fordern Raum für Selbstbestimmung. Mit
Bezug auf die arabische Kultur ist noch einmal Übereinstimmung und auch
Differenz denkbar.
Ich lese Deinen Text so, dass man sich einerseits global auf einem Weltniveau
bewegt, andererseits die lokale Kultur nicht einfach zur Weltkultur machen
kann: Ist es das, was Du als Hybridmodell bezeichnest?
- Christian: Mein Vorschlag eines Hybridmodells will die
faktischen Differenzen zwischen einer globalen Friedens- und Rechtskultur und
regionalen Kulturen nicht verwischen, schon gar nicht über den europäischen
Bildungsgedanken in das Korsett einer globalen Einheitlichkeit zwingen.
Gegenwärtige Erziehungs- und Bildungskonzepte werden vielmehr auf unabsehbare
Zeit beide Bereiche, den globalen und regionalen, berücksichtigen müssen.
Gleichzeitig wird dabei verstärkt die Aufgabe in den Blick zu nehmen sein,
die Heranwachsenden angesichts der zu vermutenden Spannungen und
Entscheidungszwänge nicht allein zu lassen und ihnen z.B. Muster geglückten
interkulturellen Zusammenlebens verfügbar zu machen.
- Meinert: Einverstanden! Worüber streiten wir uns
dann?
-
(2) Bildungsgangdidaktik und bildungstheoretische Didaktik
-
Meinert: Ich beginne wiedermit einer Vorüberlegung: Für mich
haben Identität und Bildung etwas Ganzheitliches an sich, auch wenn heute
Bildungstheoretiker und Soziologen – z.B. Hans Christoph Koller, Jenny
Lüders oder Aleida Assmann - nicht mehr die eine Identität
voraussetzen. Didaktisch muss man das aber tun, glaube ich. Ich wüsste sonst
gar nicht, wie man Kinder erziehen und junge Erwachsene in die globalisierte
Kommunikation bringen kann. Dazu identifiziere ich drei Problemfelder:
- Wenn man die Rollenerwartungen an Heranwachsende differenzieren müsste,
sodass sich für sie keine Identität als ein Ganzes ergäbe, dann wäre der
Heranwachsende ein Schüler gegenüber seinem Lehrer, ein Sohn gegenüber seiner
Mutter, ein Freund gegenüber seiner Freundin. Diese unterschiedlichen Rollen
können unterschiedliche Welten und potentiell sich widersprechende
Erwartungen repräsentieren. Der Heranwachsende müsste aus globaler
Perspektive Weltbürger sein und zugleich zu hause Lokalpatriot sein. Wie kann
das funktionieren?
- Dabei ist meine Sicht zunächst einmal die der Lehrer beziehungsweise die
Erwachsenen-Perspektive. Ich würde fragen, was ich mit den Schülern machen
könnte, wenn ich sie jetzt unterrichten müsste. Dabei könnte ich mit der Idee
der getrennten Welten in Deinem Hybridmodell nicht viel anfangen.
- Diese Frage ist aber eine andere, als die, was die Schüler selbst machen
würden. Friedrich Schleiermacher hat gefragt: Was will die erwachsene
Generation mit der heranwachsenden? Die Beantwortung dieser Frage sei die
Aufgabe der Erziehungswissenschaft. Ich ergänze diese Frage durch eine
Umkehrung: Was will die heranwachsende Generation eigentlich mit den
Erwachsenen anfangen? Den Heranwachsenden gehört die Zukunft, die Erwachsenen
sterben vor ihnen. Das ist ein offenes Feld für die
Bildungsgangdidaktik.
- Christian: Ich möchte jetzt nicht gleich die nächste
Frage anschließen, sondern eher ein Resümee ziehen. Wenn ich deinen Beitrag
auf den Punkt bringen müsste, so wären zwei Aspekte zu nennen –
verbunden mit der Rückfrage, ob du dem zustimmen könntest: Gefragt war nach
dem Verhältnis von Bildungsgangdidaktik und bildungstheoretischer Didaktik.
Bei mir verfestigt sich der Eindruck, dass Klafki eher vom Objektiven
ausgeht, den Herausforderungen dieser Welt etc. Was ergibt sich daraus für
die Schüler? Die Bildungsgangdidaktik hat dagegen eher einen
anthropologischen Hintergrund: Alle Menschen müssen im Laufe ihres Lebens
gewisse Entwicklungen durchmachen, auch Enkulturationen, wie immer man das im
einzelnen nennen mag, so dass die Bildungsgangdidaktik mehr den Blick auf die
Subjekte betont, die hier gefordert sind – durch Erwartungen und durch
Reaktion darauf mit der Produktion eigener Sinnkonstruktionen etc.
Vereinfachend gesagt: Auf der Skalierung subjektiv/objektiv ist die
Bildungsgangdidaktik eher auf der subjektiven Seite und die
bildungstheoretische Didaktik von Klafki eher auf der objektiven Seite
angesiedelt.
- Meinert: Partielle Zustimmung!
-
Bildungsgangdidaktik und bildungstheoretische Didaktik
- Christian: Den zweiten Aspekt möchte ich metaphorisch
angehen – auch im Sinne eines Sich-Stark-Machens für die
lebensweltliche Erfahrung. Erzogen wird zu hause, regional. Die Kinder werden
aber auch unter der Perspektive erzogen, dass sie dieses Zuhause verlassen
und in die Welt gehen. Und meine These dazu ist, dass die Kinder sich dieser
Differenz von Zuhause und Draußen-in-der-Welt bewusst sind und sich auch
entsprechend verhalten – bis zu dem Paradoxon, dass mir Menschen
erzählen, was für nette und erzogene Kinder meine Frau und ich hätten. Ich
pflege dann nachzufragen: Sprecht ihr wirklich von meinen Kindern? Werner
Maihofer hat - ähnlich gestimmt - einmal den morgendlichen Kampf seiner vier
Töchter um das Badezimmer als Hobbes'schen Zustand eines Kampfes aller gegen
alle beschrieben.
Das heißt auf Weltkultur und lokale Kulturen übertragen: Die eigentliche
Erziehungsarbeit – und hier kann man den familialen Kreis um die
schulische Ausbildung etc. erweitern - erfolgt regional- kulturell zu hause,
aber immer auch unter dem Aspekt, dass man sich draußen benimmt und den dort
herrschenden Üblichkeiten anpasst. Meines Erachtens sind sich die jungen
Menschen dieser Differenz in der Rechweite der jeweiligen Kulturen immer
bewusst und spielen mit dem Vagabundieren zwischen den Sphären.
- Meinert: Das ist aber eine andere Frage als die nach der
Globalisierung der Bildung?
- Christian: Nein. Für mich könnte das Nicht-Zuhause-Sein
einen globalen Aspekt haben. Die eigentlichen Unterschiede zwischen Deiner
und meiner Argumentation liegen in unterschiedlichen Identitätskonzepten,
Deinem ganzheitlichen und meinem multiplen!
- Meinert: Ich beginne mit einen kleinen Kommentar unter
Bezug auf Wilhelm von Humboldt und seine Bildungstheorie. Ich entwickle mich,
ich setze mich in eine Beziehung zum Ganzen, zur Universalität. Dieses Ganze
ist definiert als alles, was ich nicht bin. Humboldt spricht deshalb vom
»Ich« und vom »Nicht-Ich«. In diesem Rahmen gibt es einen Bildungsprozess,
der ein Entfremdungsprozess ist. Das Ich erobert sich die Welt, leidet an der
Welt, setzt sich dieser Welt aus, und das alles wirkt sich auf die
Identitätsbildung des Ichs aus. Humboldt sagt: Es strahlt zurück. Somit
hättest du ein Bild, das sehr wohl erlaubt, dass diese Welt zunächst eine
lokale ist, dann aber eine universale darstellt. So einfach und schwer
zugleich ist es: Ich und Nicht-Ich als Bildungsprozess!
- Christian: Bei dieser Denkfigur sollten wir noch einen
Moment bleiben. Sie eignet sich hervorragend, um einen Unterschied zwischen
unseren Standpunkten zu verdeutlichen. Für mich ist Identität nicht ein in
sich einheitlicher Kern, der mit dem Außen interagiert, wie Humboldts Bild
suggeriert. Für mich ist Identität eher das ständige Ausbalancieren zweier
Instanzen, der Erwartungen, die an mich auf der einen Seite gestellt werden,
und meiner Bereitschaft auf der anderen Seite, solchen Erwartungen zu
entsprechen. Dieses Ausbalancieren kann in jedem Moment meines Lebens aktuell
neu anstehen. Es kann manchmal ganz harmlos, in anderen Fällen aber sehr
konfliktträchtig sein und sich bis zur Krise steigern.
Dies hervorzuheben ist mir deshalb so wichtig, weil es darauf ankommt, sich
in diesem Balancierungsaktakt immer wieder neu zu justieren.
- Meinert: Ok. Ich glaube, wir können zum dritten
Themenkomplex übergehen, auch wenn wir längst nicht mit der Bestimmung des
Verhältnisses von Bildungsgangdidaktik und bildungstheoretischer Didaktik
fertig sind.
-
(3) Entwicklungsaufgaben und Bildungsaufgaben
- Christian: Könntest Du den Unterschied zwischen
Entwicklungsaufgaben und Bildungsaufgaben erläutern?
- Meinert: Den Begriff der Bildungsaufgaben verwenden wir
in der Bildungsgangforschung gar nicht, und dafür gibt es auch einen guten
Grund. Mit Theodor W. Adorno gilt, dass jede Bildung, die von anderen und
damit von außen dem Subjekt oktroyiert wird, zur Halbbildung degeneriert.
Bildung ist immer etwas, das sich das bildende Subjekt selbst aufgibt.
- Christian: Zustimmung!
-
Meinert: Hinsichtlich der Entwicklungsaufgaben scheint es
mir sinnvoll, drei Niveaus oder Schichten zu unterscheiden:
- Das erste Niveau ist gekennzeichnet durch die natürliche
Entwicklung der Heranwachsenden, was Havighurst als biologische
Entwicklung (einschließlich der psychologischen Entwicklung) begreift –
die Kinder werden älter, es kommt die Adoleszenz. Sie lernen dabei sehr viel
in informellen Strukturen.
- Die zweite Schicht macht das schulische (und auch gelegntliche
außerschulische) Lehren und Lernen aus. Es ist nun einmal so in unserer Welt,
dass Kinder in die Schule gehen und dass sie dort mit Anforderungen jeglicher
Art konfrontiert werden, die sie auf das gesellschaftliche Leben vorbereiten
sollen.
- Das dritte Niveau kann dann als Bildung bezeichnet werden, die
eben notwendig ein anderes Verhältnis zur Lehrbarkeit hat als die Lehre
– sagen wir – des Englischen als »lingua franca«. Bildung kann
durch Erwachsene gefördert, aber sie kann niemals erzwungen werden.
- Christian: Für mich ergibt sich damit die Frage, was ich
denn jetzt in die schulischen Curricula schreibe. Und ich merke an, dass wir
damit auch gleich in den vierten Themenkomplex einsteigen könnten, in die
Klärung der Frage, ob wir für die Gegenwart eine Didaktik mit universalem
Anspruch oder ein nach »global« und »universal« differenzierendes Modell
brauchen.
- Meinert: Heißt dies, dass es für Dich
eine Didaktik für die heutige Zeit nicht geben kann? Dass
ein Hybridmodell der Didaktik her muss? Für mich ist diese Idee neu. Ich muss
weiter darüber nachdenken.
-
(4) Eine Didaktik mit universalen Anspruch oder ein nach global und
universal differenzierendes Hybrid-Modell
- Meinert: Ich habe im Vorgespräch schon protestiert. Es
kommt im wesentlichen darauf an, wie man das lernende Subjekt konzipiert.
Wenn die Erwartungen an das sich entwickelnde Subjekt inhomogen sind und
Widersprüche erzeugen, dann wird auch das lernende Subjekt ein nicht mit sich
selbst identisches Subjekt. Ich werde jetzt sehr bildungstheoretisch und
versuche einfach, die Gegenthese aufzustellen:
In dem Moment, in dem ein Land oder eine Schule ein
Curriculum verabschiedet und sagt: Hiernach sollen die Schüler erzogen
werden, treten die Lehrer hoffentlich auch für ein
Curriculum und damit für eine Didaktik und damit
eine Zielsetzung bezüglich der schulischen Bildung ein. Die
Schüler aber fragen sich, was sie mit dem Lehrangebote der Schule anfangen
sollen, und wenn das Curriculum in die moralisch bewertenden,
identitätsstiftenden Bereiche gelangt, hört das direkte, einfache Lehren ja
sowieso auf, wie ich eben erläutert habe.
Schleiermacher sagt, die Schule sei deshalb notwendig, weil die
heranwachsende Generation in ihr ihr »Gemeingefühl« entwickeln kann, ein
Gemeingefühl, das diese Generation braucht, um in den großen
Lebensgemeinschaften konstruktiv mit den anderen Menschen umgehen zu
können.
Das war jetzt der Versuch eines Gegenentwurfs. Ich sage: Es muss
eine Didaktik geben, sonst kann man nicht glaubwürdig
lehren.
- Christian: Ich setze dagegen, dass es
eine Didaktik für den ganzen Globus nur für den Preis des
Verbleibens im Formalen, Abstrakten und nicht Lebensnahen geben kann. Ich
komme dafür noch einmal auf mein Beispiel zurück: Zuhause und in der Fremde
gelten jeweils andere Kleidungsordnungen, andere Anstandsregeln, andere
Kochmethoden, andere Verwandtschaftsverhältnisse etc. Draußen müssen sich
unsere Kinder aber global geltenden Regeln unterwerfen. Aber zu hause gelten
diese Regeln nicht unbedingt!
- Meinert: Wo ist der Konflikt? Zuhause verhalte ich mich
so, in der weiten Welt verhalte ich mich anders. Problematisch wird das erst,
wenn an mich Anforderungen gestellt werden, die widersprüchlich sind - wenn
ich z.B. zugleich das Familienoberhaupt folgsam anerkennen soll und in der
demokratischen Weltkultur prinzipiell die Gleichheit aller Menschen anerkenne
und deshalb ablehne, dass mein Vater mir gegenüber ein Weisungsrecht als
Familienoberhaupt hat, obwohl ich erwachsen bin. Erst das produziert
Konflikte, und diese Konflikte lassen sich in einem Modell hybrider Kulturen
besser auf den Begriff bringen.
- Christian: Damit reproduziert sich ein Problem auf
globaler Ebene, das wir auf nationaler Ebene auch schon hatten oder haben. Da
ist zum Beispiel die Frage: Was heißt es eigentlich Deutscher zu sein? Ich
sympathisiere mit dem Ansatz, der versucht Deutschsein über das Grundgesetz
zu definieren. Ein Migrant zum Beispiel, der in unser Land kommt, kann in
seiner Privatsphäre alles das machen, was unserer Verfassung nicht
widerspricht. Genau so könnte ich mir jetzt vorstellen: Kulturell ist alles
möglich, was dem universalen und rechtlichen Rahmen der Sicherung des Frieden
und der Menschenwürde nicht widerspricht. Unterhalb dieser Ebene können die
Menschen aber machen, was sie möchten.
- Meinert: Kontra! Ich will nicht, dass das Dominanzsystem
der arabischen Welt, wo der Vater zu bestimmen hat, was passiert, und der
Sohn oder auch die Mutter zu gehorchen haben, bei uns eingeführt wird. Ich
will so ein System auch nicht für die muslimische Welt. Ich habe - aufgrund
meiner ethischen Prinzipien - Wünsche und Vorstellungen, die nicht mit einem
solchen System verträglich sind. Allgemeinbildung befähigt zur Teilnahme am
öffentlichen Leben, globalisierte Allgemeinbildung befähigt zur Teilnahme an
der globalen Öffentlichkeit. Aber das ist nicht alles. Erziehung bezieht sich
auch auf das Privatleben. Mir ist es als Lehrer nicht egal, was die türkische
Mutter zu hause ihren Kindern beibringt.
Da gibt es also aufgrund der Verfassung den potentiellen Konflikt zwischen
Elternrecht und Recht des Staates, Allgemeinbildung zu vermitteln.
- Christian: Ich bin in dieser Frage ein Suchender.
- Meinert: Diese Problematik spricht Helmut Peukert sehr
abstrakt mit seinem Begriff der Ethik der intergenerationellen Kommunikation
an. Damit meint er, dass in der Kommunikation zwischen den Jugendlichen und
den Erwachsenen, den Lehrern und den Schülern, den Kindern und den Eltern
nicht einfach alles erlaubt sei. Diese Kommunikation beruhe vielmehr auf
ethischen Prinzipien, zum Beispiel der Gleichberechtigung aller Menschen, der
Solidarität mit allen Menschen, die Hilfe brauchen, etc.
- Christian: Ich sehe jetzt noch nicht den eigentlichen
Widerspruch. Wenn wir Globalisierung rechtlich verstehen, als transnationale
Gewährleistung des Friedens und der Menschenrechte, …
- Meinert: … dann das heißt das doch für die Schule
als Zielsetzung, die Schüler dazu zu befähigen, friedensfähig zu sein.
- Christian: Zustimmung, was die Friedensfähigkeit
betrifft. Jedoch mit Blick auf die Menschenrechte: Wer hat denn die
Definitionshoheit, Menschenrechte inhaltlich zu konkretisieren? Du
beanspruchst das individuell für Dich?
- Meinert: Die UNO beansprucht das für alle Menschen.
- Christian: Dort wären die Rechte auszuhandeln. Aber ich
weiß nicht, ob das so einfach geht. Soll es heißen, dass eine Nation ihre
erreichten Standards auch für alle anderen Nationen verbindlich erklären
kann? Die Staaten der Welt befinden sich im Hinblick auf die Menschenrechte
auf unterschiedlichen Niveaus. Das muss man didaktisch berücksichtigen.
- Meinert: Nimm als Beispiel aus China den Aufstand auf
dem Platz des himmlischen Friedens vor dem Kaiserpalast mit dem Mao-Bild, wo
die Studenten gegen die Obrigkeit demonstriert haben. Für die meisten
Chinesen war das Verhalten der Studenten ganz unmöglich, weil durch sie
Gebote von Konfuzius, gegenüber dem Staatsoberhaupt gehorsam zu sein,
verletzt wurden. Ich habe junge Chinesen gesprochen, die gesagt haben: Die
Demonstranten haben sich falsch verhalten. Dagegen würde ich sagen: Hier
haben die chinesischen Machthaber Schuld auf sich geladen. Die
Niederschlagung der Studentenproteste war aus Sicht der meisten Europäer
nicht akzeptabel. Wir gehen in die Offensive, wenn auch nicht in dem
missionarischen Sinne des Neuen Testamentes: »Gehet hin in alle Welt und
lehret alle Völker«! Wir fordern deshalb einen Demokratiedialog.
- Christian: Damit berühren wir eine bereits als äußerst
problematisch gekennzeichnete Debatte. Wenn ich ein verantwortlicher
chinesischer Politiker wäre, in diesem Großreich, das ich mir in seiner Größe
gar nicht richtig vorstellen kann, würde ich mir die Frage stellen: »Was
könnte alles passieren, wenn Änderungen nach europäischen Muster von uns in
China gemacht würden?»
Und das heißt für mich als Europäer: Ich bräuchte für meine Beurteilung der
Entwicklung in China und für ein gegebenenfalls verantwortungsbewusstes
Handeln weitere Bezugspunkte, etwa Transformations- bzw.
Implementationsgesichtspunkte. Ich kann nicht einfach nur von der idealen
Forderung nach Demokratie ausgehen.
- Meinert: Ich versuche konkreter zu werden. Es gibt in
China schätzungsweise 250 Millionen Menschen, die nicht Han-Chinesen
sind – die Tibeter, die Juguren usw. Nach unseren europäischen
Standards sind diese Minoritäten nicht hinreichend mit Rechten ausgestattet.
Ich meine, dass wir als Europäer deshalb darauf hinweisen dürfen, dass diese
Minoritäten benachteiligt werden und dass die Han-Chinesen hier umdenken
müssen.
- Christian: Damit habe ich keine Probleme. Jedoch nur auf
Demokratie und Recht zu pochen, ist mir zu wenig. Ich suche noch andere
Bezugspunkte, die im Sinne einer Legitimation unserer europäischen Haltung
berücksichtigt werden sollten. Ich denke etwa an den Begriff des Leidens, wie
er von Richard Rotry thematisiert worden ist. Ein Recht auf Intervention gibt
es da, wo Menschen leiden, und das könnte für die Tibeter und Juguren
anzunehmen sein - wenn auch nicht unbedingt im Vergleich zu den vormodernen
Zuständen unter den Gesichtspunkten medizinische Versorgung
etc.
Mit welchem Recht kann ich aber zum Beispiel das Modell der europäischen
Familie den Menschen in allen anderen Kontinenten oktroyieren? Ich könnte mir
vorstellen, dass eine europäische Frau leidet, wenn sie in ein Haremssystem
gezwungen würde. Das muss aber nicht für alle Frauen und für alle
Gesellschaften gelten.
- Meinert: Nach meiner Auffassung zieht Dein Beispiel
nicht! Das Leben im Harem war etwas anderes als die muslimische Praxis,
Frauen zu beschneiden; es ist etwas anderes, als sie wirklich mit Gewalt zu
unterdrücken.
- Christian: Aber könnte hier nicht der Leid-Begriff nach
Rotry ein Differenzierungskriterium sein? Der entscheidende Gesichtspunkt ist
die Klärung der Frage, ob, dass Menschen unter einer Gewalt leiden, die nicht
legitimiert werden kann.
- Meinert: Zu berücksichtigen ist aber das Problem des
falschen Bewusstseins. Die arabische Frau – wenn sie zum Beispiel aus
dem »wilden Kurdistan« kommt – nimmt ihre familiäre Situation als die
normale an, während der europäische Blick ihre Situation als nicht akzeptabel
wahrnimmt. Müssen wir jegliches falsches Bewusstsein akzeptieren?
- Christian: Wer hat das richtige Bewusstsein? Wer ist der
Schiedsrichter?
- Meinert: Wahrscheinlich widerspricht das, was ich jetzt
sage, dem, was ich oben bezüglich Helmut Peukerts intergenerationeller
Kommunikation gesagt habe. Ich denke an François Lyotard! Bei ihm gibt es
nicht den Oberdiskurs, der Problemfragen wie ein Weltschiedsrichter
entscheidet.
- Christian: Wenn Du jetzt in Gebieten in Westchina, wo
die Tibeter und Juguren leben, eine Schule hättest, …
- Meinert: … würde ich versuchen, meine Vorstellung
vom Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern, vom Verhältnis der Geschlechter
etc. zu propagieren – mit aller didaktischen Feinfühligkeit und mit
allem pädagogischen Takt. Was soll ich sonst machen? Ich müsste mich ja
verbiegen. Ich müsste meine Identität aufgeben. Ich müsste schizophren
werden.
- Christian: Wir werden uns hier wohl nicht einig werden.
Deshalb will ich noch einmal meine These unter Rückgriff auf mein Beispiel
wiederholen: Wenn eine Mutter zu ihrem Kind sagst: Wenn Du bei den Gasteltern
im Auslandsjahr bist, sieh mal zu, dass Du das Dort-Übliche machst, und ich
weiß: das Dort-Übliche ist zum Teil ganz anders als das Zuhause-Übliche. Da
werden ganz unterschiedliche Erziehungsvorstellungen und kulturelle Muster
deutlich. Und die muss ein Austauschschüler mit seinen eigenen Vorstellungen
zusammen bringen! Meine These lautet deshalb: Wir können auf absehbare Zeit
kein Erziehungsmodell für alle Kontinente entwickeln. Mein Programm wäre es
vielmehr, den Heranwachsenen zu helfen, die Unterschiede wahrzunehmen, im
Einzelfall auch zu versöhnen, in der Regel aber nur auszubalancieren und die
Differenzen auszuhalten.
- Meinert: Zustimmung, Aber nur, wenn das, was zunächst
nicht von sich aus zusammenpasst, ethisch akzeptabel ist. Ich gebe noch ein
Beispiel:
Ich denk an die Mafiastrukturen in Sizilien. Da wachsen die jungen Leute,
etwa der Sohn vom Mafia-Boss, auch in die großen mafiosen
Lebensgemeinschaften hinein. Solche Strukturen kann ich deshalb aber noch
lange nicht akzeptieren. Allgemeiner formuliert: Du kannst deine eigene Ethik
nicht einfach suspendieren!
- Christian: Aber Du koppelst Deine Zustimmung an eine
Ethik, die späteuropäisch ist! Ich will jetzt nicht das billige Argument von
der Eurozentrik bemühen. Aber …
- Meinert: Hier können wir vielleicht darauf
zurückgreifen, das sich die Bildungsgangdidaktik anthropologisch begründen
lässt. Es gehört zur »condition humaine«, dass wir von unseren ethischen
Standards nicht so einfach Abstand nehmen können. Zur »condition humaine«
gehört auch, dass Lehren und Lernen ganz ursprünglich geschieht. Überall wird
gelehrt und gelernt.
- Christian: Anthropologisch begründbar ist nur das
biologische Faktum, dass wir als vom Instinkt entbundene Wesen zum Überleben
auf das Lehren und Lernen angewiesen sind, aber die variierenden
Ethikkonzepte sind der jeweiligen kulturellen Umwelt zuzuordnen.
Wir müssen doch davon ausgehen, dass Ethik und Moral nicht einfach da sind,
sondern gewisse Entwicklungsstadien durchlaufen. Dann könnte man sagen, dass
wir jetzt – in Europa – auf einem Entwicklungssand sind, den ich
diskursiv nennen möchte. Lawrence Kohlberg und Jürgen Habermas lassen dabei
im Hintergrund grüßen – mit der Annahme, dass Parallelen zwischen der
ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung denkbar sind. Aber ganz
abgesehen von strukturalistischen Gegenargumenten: Wie verhalten wir uns zu
den vielen Staaten, die (phylogenetisch) noch nicht auf der späteuropäischen
Diskursebene angekommen sind? Die sich zum Beispiel noch viel stärker an
Konventionen orientieren? Solchen Staaten kannst du doch nicht einfach
vorschreiben, was bei uns heute ethisch reflektiert angesagt ist.
- Meinert: Ich weiß nicht. Es könnte sein, dass das, was
Du vorschlägst, eine pragmatische Variante des Hegelianismus ist, dass wir
letztlich doch die Herrschaft unserer eigenen Kultur, unserer eigenen
Prinzipien, unserer eigenen Ethik wollen. Ich muss darüber nachdenken!
- Christian: Für mich endet unsere Diskussion in einer
Aporie, die wir eigentlich so nicht stehen lassen dürfen: Die Chinesen sagen
das, die Araber jenes und wir Europäer sagen noch etwas anderes!
-
Meinert: Bisher haben wir nur die verschiedenen Kulturen
einander gegenübergestellt. Ich habe aber Beispiele genannt, wo für mich eine
Anpassung an die fremde Kultur nicht denkbar ist. Jetzt wäre deshalb zu
klären, was man von sich aus im Rahmen der interkulturellen Bildung
didaktisch machen kann.
Dafür denke ich noch einmal in Niveau-Stufen:
- Das erste Niveau ist das nicht Akzeptabele, das Niveau des
Ethnozentrischen. Alles, was von meinem eigenen Weltbild abweicht, wird aus
dieser Perspektive als minderwertig erklärt. Das haben die Nazis
vorexerziert. So kann man nicht argumentieren
- Das zweite Niveau ist das interkulturelle. Da akzeptiere ich
zunächst – was nicht wenig ist –, dass die anderen anders sind,
bis zu der schönen Formulierung, dass man in sich selbst das Andere entdecken
soll.
- Ich würde dann drittens einen transkulturelles Niveau ansetzen.
Kultur ist nicht alles. Das transkulturelle Niveau könnte ein ethisches sein,
wo es bei allen spannenden, interessanten, frustrierenden oder auch
ängstigenden Differenzen noch mehr gibt als nur diese Differenzen, z.B. eine
kulturübergreifende Aushandlung ethischer Prinzipien.
- Christian: Solche Stufen habe ich immer für sehr
hilfreich für die Diskussion empfunden. Eigentlich fängt die Diskussion jetzt
erst an!