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urn:nbn:de:0043-rhinodidactics-36-7 – Ausgabe 36 vom 1. August 2012 (als PDF)

30. Juli 2012

»Globalisierung« als Herausforderung an die Allgemeine Didaktik

Christian F. Görlich

Zusammenfassung

Die Allgemeine Didaktik wird sich der Globalisierungsdebatte nicht entziehen können. Insoweit dürfte auch in der Lehrerbildung Wolgang Klafkis Vorschlag einer erweiterten Reflexion der Didaktik Zustimmung finden. Praxiserfahrungen warnen jedoch davor, das Thema einer an bloßer Wissenorganisation orientierten Bildungspolitik und -verwaltung zu überlassen. Kontrafaktisch zu den gegenwärtigen Verhältnissen plädiert der Autor dafür, wieder große Erzählungen zuzulassen und an die Jahrhunderte alte Erzählungen von Aufklärung, Europa und der Welt anzuknüpfen. Das Webmuster dieser Erzählung wird diachron und synchron anhand von Kant, Habermas und Lübbe in Grundlinien skizziert. Bei den genannten Philosophen zeigt sich deutlich eine Skepsis gegenüber utopistischen Denkmustern. Eine Weltrepublik und eine Weltgesellschaft wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Die Region wird auf nicht absehbare Zeit ein entscheidender lebensweltlicher Orientierungsrahmen bleiben. Insofern ist auch der Anspruch auf eine einheitliche und umfassende Allgemeine Didaktik mit universaler Reichweite kritisch zu hinterfragen. Vielleicht könnte anstelle eines Strebens nach Einheitlichkeit ein Denken in Hybridmodellen, das die Differenzen zwischen Globalem und Regionalem nicht verschleiert, unter Einbeziehung entsprechender Identitätskonzepte für die Heranwachsenden hilfreicher sein und sich notwendig erweisen?

Erziehung und Unterricht zwischen Weltbürgertum und Rückbesinnung auf die Regionen

Ausgangspunkt meiner Darstellungen ist Meinert Meyers Frage nach der Möglichkeit einer Allgemeinen Didaktik mit universellen Geltungsanspruch:
Er pflegt aus seiner täglichen Arbeit heraus beiläufig und harmlos Fragen zu formulieren, die sich im Nachhinein wie »Viren« in das Gehirn schleichen und dieses längerfristig beschäftigen – so seine Bedenken bezüglich Wolfgang Klafkis Anspruch, »die Grundlinien einer neuen Allgemeinbildungskonzeption in internationaler/interkultureller Perspektive« entwickeln zu können (Klafki in Gogolin1998, 235f). Zwar spricht Klafki vorsichtig nur von »Bildung in einem universalen Horizont« und versieht das Wort Globalisierung vereinzelt noch mit Anführungsstrichen; seine allgemeine Intention aber, den Anschluss an die Globalisierungsdebatte zu finden, ist unübersehbar.

Zur gegenwärtigen Globalisierungsdebatte

Das Thema »Gloablisierung« hat seit 1989 Konjunktur (zur historischen Dimension vgl. Osterhammel 2003). Dieser Hype ist von Anfang aber an auch mit skeptischen Blicken begleitet worden – bis zur selbstkritischen Frage des Wirtschaftswissenschaftlers Jagdish Bhagwati (Bhagwati2008, S.17): »Braucht die Welt ein weiteres Buch über die Globalisierung?«. Und so möchte ich fortfahren: – »Braucht die Welt einen weiteren Aufsatz zur Globalisierung als Herausforderung an die Allgemeine Didaktik?«. Für mein »Ja« auf diese fragenden Selbstzweifel möchte ich hier drei Gründe nennen:

Ein erster Grund: Bei Rüdiger Safranski fand ich in seinem philosophisch eingefärbten Büchlein »Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?« Safranski2010 die Unterscheidung zwischen »Globalisierung« (Kap. II) und »Globalismus« (Kap. III). »Globalisierung« verweist auf die Trivialität der unübersehbaren, vielfältigen und weltweiten Vernetzungen. Safranski empfiehlt deshalb, hier genauer und konsequenter von »Globalisierungen« im Plural zu sprechen. In »Globalismus« dagegen signalisiert schon das Suffix »-ismus« einen Ideologieverdacht. Von der Kritik am Globalismus als einer Variante der Aufklärung ist der Weg nicht weit zum Kernbereich der Bildungsproblematik.
Es gibt drei Momente, die Safranski expliziert benennt und die den »Globalismus« als Ideologie geradezu existentiell bedrohlich erscheinen lassen:

  1. »Globalismus« sei zur Legitimationsideologie eines ausufernden Neoliberalismus geworden – mit all den aus der Tagesaktualität hinlänglich bekannten ambivalenten Folgen.
  2. Die Überbetonung der globalen Dimension unserer Gegenwart störe das Ausbalancieren von Mobilität/Weltoffenheit einerseits und Ortsfestigkeit/Heimat/ Nation anderseits. »Wir können global kommunizieren und reisen, wir können aber nicht im Globalen wohnen« (Safranski2010, S. 24).
  3. Mit Blick auf die weltweiten Risiken (vgl. Beck1997, S. 168ff) sei ein gewaltiger Handlungs- und Politisierungsdruck auf die verantwortlichen Akteure entstanden. Das Konzept des »Globalismus« könne suggerieren, dass es ein Menschheitssubjekt als verantwortliche und handelnde Größe gebe, und so die wahren Herrschaftsverhältnisse und Gefahren verschleiern.

Einen zweiten Grund für das bildungstheoretische Interesse an Globalisierung sehe ich in den unglücklichen Erfahrungen mit PISA und Konsorten, die ich in meiner letzten aktiven Berufsphase in der Lehrerausbildung machen musste: auf der einen Seite eine grundsätzlich wünschenswerte Vermehrung empirischen Wissens, auf der anderen Seite die Halbierung des Bildungsbegriffs durch den weitgehenden Verzicht auf eine nach Identität suchende Reflexion. Wie immer man zu Richard David Prechts Bestseller »Wer bin ich – […]?« stehen mag – der Titel bringt offensichtlich ein gegenwärtiges Fragebedürfnis zum Ausdruck: Wie verstehe ich mich als urteilsfähiges Subjekt, das nach dem letzten bildungspolitischen »turn« all diese geforderten Kompetenzen entwickeln oder erwerben, verwalten und anwenden soll? Wie verstehe ich mich etwa als Schlesier oder Westfale, als Deutscher, als Europäer oder als Weltbürger?

Der zu konstatierende Reflexionsverlust und die Halbierung der Bildung in der Alltagswelt und der Schule sind natürlich auch durch regionale Zeitumstände bedingt, aus meiner Wahrnehmung als Seminarleiter vor allem durch die nicht immer kompatiblen Regulative sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Subsysteme wie Schule, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und (Schulbuch-)Industrie. Diese Subsysteme sind auf Grund ihrer Zielvarianten potentielle Konkurrenten. Außerdem ist zu befürchten, dass bei konfligierenden Interessen die Wünsche der im Rang tiefer stehender Subsysteme zu kurz kommen. Die Bildungspolitik will Ergebnisse vorweisen, die sich in Wählerstimmen ummünzen lassen. Die Wissenschaftler wollen als Politikberater reüssieren. Mit der Bildungsadministration, der Mittlerbehörde zwischen Bildungspolitik/Regierungsverwaltung und Einzelschulen könnte man fast schon Mitleid bekommen, so schnell ändern sich die Strukturen, Prüfungsordnungen und pädagogischen Konzeptionen, die die Regierungsbeamten den verwalteten Lehrerbeamten oktroyieren sollen. Schulbuchverlage und Autoren verdienen an dem Immer-wieder-Umschreiben der Schulbücher. Und die Kolleginnen und Kollegen in den Klassen möchten am liebsten in Ruhe ihre Arbeit tun, ohne immer wieder das »Übliche« rechtfertigen zu müssen (vgl. Odo Marquardt in Marquard1986, S. 117ff).

PISA stellt deshalb gegenwärtig eine große Herausforderung dar. Um dem Phänomen PISA gerecht zu werden, wird es regional und im Einzelnen sicher noch differenzierter zu betrachten und zu würdigen sein; es erhält seine Brisanz aber vor allem vor der Folie der Globalisierung. Inzwischen beginnt sich allerdings auch eine politische Kontexte assoziierende Kritik zu artikulieren, die ihrerseits wieder zum Gegenstand von Kontroversen wird. Man vergleiche dazu den aufschlussreichen Titel »Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey Co.« des Autors Richard Münch Muench2009.

Ein dritter Grund, warum Pädagogen das Thema Globalisierung aufgreifen sollten, ist daran festzumachen, dass es sich bei diesem Fragenkomplex eigentlich gar nicht um ein neues, sondern um ein »klassisches« Problem der Bildung handelt. Mit der Kennzeichnung als »klassisch« meine ich dabei – apologetisch kann es nicht oft genug wiederholt werden -, dass ein strukturell Zeit übergreifendes Problem in seinen konventionellen historischen Sprachformen interpretiert werden kann bzw. der Übersetzung in die Sprache der Gegenwart bedarf.

Zeit übergreifend lautet die zu diskutierende strukturelle Frage nach meiner Überzeugung:
»Wie ist eine Allgemeine Bildung bei gleichzeitiger Vielfalt denkbar und organisierbar?« Aktuell könnte man auch formulieren:

»Lassen sich ein universaler Horizont und regionale Verankerungen über Bildung identitätsstiftend vermitteln?« Meine Hypothese dazu lautet, dass wir und unsere Kinder und Kindeskinder uns auf nicht absehbare Zeit mit einer Lücke zwischen globalem Agieren und lokalem Wohnen werden abfinden müssen. Jenseits von utopischen Entwürfen in Form von zentrierenden Ideen werden wir uns ganz pragmatisch in der Welt, wie sie nun einmal ist, einrichten müssen – gemäß Shakespeares »THE WORLD IS WHAT IT IS«. Es sollte einleuchten, dass eine solche pragmatische Situationsbestimmung Konsequenzen für den Anspruch und die Reichweite einer Allgemeinen Didaktik haben dürfte, die den Anspruch, »allgemein« zu sein, ernst nimmt.

Wolfgang Klafki revisited

Klafki hat im vorigen Jahrhundert Generationen von Lehrerinnen und Lehrern in ihrer Ausbildung geprägt. Seinen hohen theoretischen Anspruch habe ich oft in der Lehrerausbildung gegen eine zunehmende pragmatische Orientierung ins Spiel zu bringen versucht, insbesondere dann, wenn diese zur bloßen Nachfrage nach Unterrichtrezepten verfiel.

Ob Klafki seine prominente Stellung in der Lehrerbildung weiter wahren kann, wird durch meine Erinnerungen eher infrage gestellt. Bei der etwas mühseligen Behandlung eines Textes von Klafki bekannte eine Referendarin erfrischend freimütig, dass sie den Text in seinem »Vorausetzungsreichtum« und seinem »Steilheitsgrad« schlichtweg nicht verstehe. Sie begründete dies damit, dass sie ihr Abitur an einer nordrhein-westfälischen Schule gemacht habe und dass sie nur deshalb nun im Lehrerausbildungsseminar angekommen sei. Es möge den Leserinnen und Lesern – mit dem gebotenen Respekt vor der Authentizität der Referendarin – überlassen bleiben, die mit dieser Selbstaussage indirekt eingestandene intellektuelle Nivellierung und ihre Verallgemeinerungsfähigkeit zu beurteilen.

Wie auch immer – die jahrzehntelange Präsenz auf der didaktischen Bühne verdankt Klafki auch seiner Anpassungsfähigkeit oder, positiver formuliert, seiner Sensibilität für die jeweiligen Zeitumstände. Bei Jank/Meyer (Jank1991, S. 165ff.) heißt es ziemlich respektlos: »Der Bildungstheoretischen Didaktik hätte um 1970 kaum jemand noch ein langes Leben vorausgesagt – aber Totgesagte leben länger!« Als Gründe nennen Jank/Meyer, dass Klafkis Didaktik als konservativ und zu abstrakt galt, dass sie sich der Lebenswelt der Schüler entfremdet habe und dass sie die Methodik vernachlässige.

Wohl auch vor dem Hintergrund solcher Kritiken mag Klafki seine Konzeption überdacht und eine Neufassung als kritisch-konstruktive Didaktik vorgelegt haben. Für den hier interessierenden Aspekt der Globalisierung als Herausforderung an die Didaktik sollte hervorgehoben werden, dass Klafki bei der Neuformulierung seiner Didaktik im Sinne einer »Kritischen Theorie« nicht nur auf das Gedankengut der klassisch-bürgerlichen Bildungstheoretiker zurückgreift, sondern auch intensiv die »Kritische Theorie der Frankfurter Schule« (vor allem Texte von Adorno und Habermas) rezipiert hat.

Dieser »Metamorphose« der bildungstheoretischen Didaktik durch die Frankfurter Schule hat Klafki meines Erachtens in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts weitere folgen lassen. Am bedeutsamsten scheint mir dabei die Betrachtung der Bildung in einem europäischen und dann in dem bereits zitierten »universalen Horizont« zu sein. Bei diesen Weiterungen seiner Konzeption ist Klafki erkennbar den von Habermas vorgezeichneten Theorielinien gefolgt. Seine konzentrierte Gedankenführung und seine knappe, zuweilen nur andeutende Sprache lassen jedoch auch hier keine detailliertere ideengeschichtliche Verortung zu. Es mag dem Fleiß der Klafki-Philologie überlassen bleiben, die einzelnen Veränderungsschritte in den Abfolgen der »Neuen Studien« zu rekonstruieren und die Referenzstellen zum Thema Globalisierung zusammen zu stellen.

Hier möchte ich in Erinnerung an die oben zitierten offenen Worte einer Referendarin nur eine kurze Textpassage, die erste These Klafkis, aufgreifen und kommentieren – wie ich es damals vielleicht im Seminar schon hätte tun sollen. Ich möchte an dieser Passage den nun schon Jahrhunderte übergreifenden Voraussetzungsreichtum von Klafkis Überlegungen aufweisen. Wenn auch selektiv zitiert – so kann dabei doch deutlich werden, dass die Einordnung und Beurteilung von Klafkis Werk je nach Blickwinkel recht unterschiedlich ausfallen dürfte.

»Thesen« und »Aufzählungen«sind das Design, das Klafkis Texte kennzeichnet. In der konventionellen Rhetorik stehen Thesen im engeren Sinne für die Eröffnung eines Gesprächs oder, allgemeiner, für die Offenheit eines anstehenden reflexiven Prozesses. Im Folgendem beziehe ich mich auf die Textvorlage von Klafki in seinem Beitrag zu dem von Ingrid Gogolin, Meinert Meyer und Marianne Krüger-Potratz herausgegebenen Sammelband »Pluralität und Bildung« Gogolin1998 – einem Sammelband, den ich damit – gleichsam im Nebensatz – mit seinen vielen konkretisierenden Facetten als auch heute noch lesenswert empfehlen möchte.

In der ersten These, also an prominenter Stelle, spricht Klafki von epochaltypischen Weltproblemen. »Deshalb müsste Bildung in und für Europa bereits heute grundsätzlich auch als internationale bzw. interkulturelle Bildung in einem universalen Horizont verstanden und praktisch gestaltet werden, als Bildung in weltbürgerlicher Absicht« (Klafki1998, S. 237). Dass Klafki diese Anspielung auf Immanuel Kant zwar als Zitat kennzeichnet: »Bildung in weltbürgerlicher Absicht«, dass er den Zitierten und die Bezugswerke aber selber nicht benennt, lässt mit einiger Berechtigung darauf schließen, dass Klafki auf das Funktionieren einer lebensweltlich verankerten Bildung seiner Leserschaft und der bildungspolitisch interessierten Allgemeinheit vertraut. Ein solches Vertrauen ist mir hingegen abhanden gekommen, und dieser Verlust wiederum produziert Probleme, insofern die Formulierung »in weltbürgerlicher Absicht« sehr ambivalent verstanden werden kann und auch die Existenz einer einzigen »Weltrepublik« als Rahmenbedingung für die Existenz von »Weltbürgern« suggeriert.

Genau hier stellt sich die Frage nach einer zukünftig anzustrebenden Entwicklung der globalisierten Welt. Ob man eine »Weltrepublik« oder einen »Staatenbund« anstreben sollte, war schon bei Kant ein strittiges Thema. Und es ist auch heute noch strittig, wie die unterschiedlichen Sichtweisen von Jürgen Habermas und Hermann Lübbe bezüglich der Weltrepublik zeigen. Es gehört zu den elementaren handwerklichen Fertigkeiten eines Lehrers, pädagogische Zielsetzungen begründet zu entwickeln und präzise zu benennen und vor allem ihre Erreichbarkeit zumindest annähernd abzuschätzen.

Bei der Erörterung solcher Fragen habe ich zwei recht unterschiedliche Szenarien vom Lehrerdasein und von der Funktion einer Allgemeinen Didaktik vor Augen. Das erste Szenarium möchte ich »die erfahrene Wirklichkeit« nennen. Bei seiner Beschreibung sehe ich durchaus ehrwürdige Motive, bildungspolitische Gleichheit herzustellen, gleichwohl lassen sich in der Darstellung realsatirische Züge nicht ganz vermeiden. Im zweiten Szenarium finden sich eher »verbotenen Träume eines unzeitgemäßen Philosophielehrers«.

Die erfahrene Wirklichkeit der Curriculumarbeit

Der mit Blick auf zahlreiche Funktionen unter Handlungsdruck gestellte Lehrer wird bei Wolfgang Klafki keine hinreichend schnelle Antwort finden, wie er denn nun angesichts der Globalisierung die ihm Anvertrauten unterrichten und erziehen soll, zumal die Hausarbeiten einer Erziehung für Europa auch noch als unerledigt angesehen werden müssen. Deshalb braucht jedoch den Landeskindern der verschiedenen deutschen Bundesländer nicht bange zu werden, ihnen wird geholfen werden.

Fürsorgend werden die jeweils herrschenden Politiker eine beratende Expertenkommission einberufen, wobei eigentlich grundsätzlich zu klären wäre, wer heute warum den Status eines Experten für sich in Anspruch nehmen darf. Doch nicht nur deswegen dürfte die Benennung der Kommissionsmitglieder in einer gegenwärtig in Hermeneutiker und Empiriker gespaltenen Erziehungswissenschaft ein Politikum sein. Diese Expertenkommission wird möglicherweise ein »Neues Haus der Bildung« bauen – mit ganz großen Fensterflügeln, die einen weiten Blick auf Europa und die Welt erlauben.

In der Arbeit dieser Kommission werden sich Klafkis Schwierigkeiten wiederholen, ein überzeugendes allgemeindidaktisches Konzept mit universalem Anspruch zu entwickeln, ohne über eine »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters und seiner zukünftigen Möglichkeiten« zu verfügen, wie Klafki selbst eingesteht. Wahrlich mutet Klafkis Ansatz der epochalen Schlüsselprobleme hegelianisch an, aber angesichts einer fehlenden Theorie verbleiben seine Überlegungen auf der Ebene von Aufzählungen und von Listen, nicht beliebig, aber immer Zeitgeist gefährdet, im einzelnem austauschbar und ergänzungsbedürftig. Man wird auf die Konzeptionalisierungsarbeit unserer experimentell angenommenen Expertenkommission gespannt sein dürfen.

Erfahrungsgemäß werden unterhalb dieser eher visionären Ebene der Politikberatung landesweite Richtlinienkommissionen für die einzelnen Schulformen und Fächer eingerichtet werden. Die Mitglieder dieser Richtlinienkommissionen werden in der Regel aus dem Kreis der praktizierenden Lehrerausbilder und Lehrer rekrutiert. Dies macht mit Blick auf eine erhoffte Praxisnähe auch Sinn, wird aber im Ansatz paradoxerweise durch weniger Unterrichtsverpflichtungen, also weniger Praxis, vergütet. Zahlreiche Mitglieder haben durch die Kunst der Akkumulation solcher von Unterricht befreiender Tätigkeiten ihren Beliebtheitsgrad in den Kollegien der Schulen nicht gerade gesteigert. Zudem verstehen es nicht wenige Kommissionsmitglieder aus ihrer schon einmal geleisteten Arbeit als Schulbuchautoren auch privaten Nutzen zu ziehen.

Richtlinienkommissionen scheinen Hunger auf Listen zu haben – nummeriert oder mit Spiegelstrichen versehen – wie sie in Klafkis Texten, aber auch in den Inhaltsverzeichnissen der kaum noch überschaubaren Sachbücher zum Thema Globalisierung geliefert werden. Diese gilt es zu dimensionieren, zu hierarchisieren und heute in das Korsett einer Kompetenzorientierung zu schnüren. Die Ergebnisse zeugen nicht immer für das pragmatisch Erforderliche.

Hermann Lübbe hat mir gegenüber einmal – nach einer Beurteilung der Richtlinien für das Fach Philosophie befragt – sinngemäß geantwortet, er sehe nicht, wie solche Konvolute einem Praktiker in der Schule bei der tagtäglichen Arbeit hilfreich sein könnten. Diese Einschätzung scheint mir verallgemeinerungswürdig.

Die für die Praktiker missliche Situation wird noch verschärft, wenn Mitglieder von Kommissionen zugleich als Fachbeiräte der Dezernenten an der Implementation solcher Konvolute oder gar an laufbahn-relevanten Revisionen an Entscheidungen und Herrschaft teilnehmen. Sollte die unbestreitbar gute Absicht einer »Bildung in einem universalen Horizont« einer solchen Wirklichkeit begegnen, werden ihre Anhänger Stehvermögen zeigen müssen, um nicht das Schicksal vorgängiger Reformbemühungen zu erleiden:

Anderseits ist zu fragen, welche Alternativen beim jetzigen Stand der Diskussion um Gleichheit, Gerechtigkeit und Aufgaben des Staates, insbesondere im Bereich der Bildung auszumachen sind? Ich verweise dafür auf Ronald Dworkin: »Was ist Gleichheit«? Dworkin2011. Vgl. dazu die Rezension von Michael Pawlik Pawlik2012.

Verbotene Träume eines unzeitgemäßen Philosophielehrers

Der Traum, von dem hier die Rede sein soll, erzählt von dem Wunsch eines fiktiven Lehrers. Die Häuser, die an der Haustür »Kompetenzen« als Namen führen, aber bisher nur mit »Wissen« möbliert sind, sollten durch »Verstehen« bewohnbar gemacht werden. Vgl. Masing, Johannes: »Wissen und Verstehen« Masing2011.

Wie könnte ein solcher Wunsch in Erfüllung gehen?

Durch Erzählungen! Denn »narrare necesse est« – Erzählen tut not, als anthropologische Grundbefindlichkeit – so Odo Marquardt (u.a. Marquard2007, S.60).

Von einem »verbotenen« Traum ist die Rede, weil Erzählungen, insbesondere die großen Erzählungen, unter ein Verbot der Postmoderne gefallen sind – in der Tradition einer bis Platon zurück reichenden Fehde (vgl. Lyotard1986). Dieses Verbot ist im Zusammenhang eines Wissens zu sehen, das in der Neuzeit nicht nur zunehmend beschleunigt seinen Status verändert, sondern sich auch in seinem Wesen gewandelt hat. Ich zitiere Lyotard:

»Mit der Hegemonie der Informatik ist es eine bestimmte Logik, die sich durchsetzt, und daher auch ein Gefüge von Präskriptionen über die als <zum Wissen> gehörig akzeptierten Aussagen gegeben. Man kann von da an auf eine starke Veräußerlichung des Wissens gegenüber dem >Wissenden< gefasst sein, an welchem Punkt des Erkenntnisprozesses sich dieser auch befinden möge. Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung [Lyotard verwendet hier im Original das deutsche Wort] des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr.«

Die Skepsis gegenüber den Meisterdenkern und ihren Metaerzählungen ist angesichts der Totalitarismuserfahrungen im vorigen Jahrhundert nachvollziehbar. Auch der behaupteten Qualitätsveränderung des Wissens dürfte ein gewisser Realitätsgehalt nicht abzusprechen sein. Jedoch es ist immer wieder erstaunlich, wie Alltagswissen einen weitschweifigen philosophischen Diskurs knapp auf den Punkt zu bringen versteht: »Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten!« Kurz und gut:

Der Traum empört sich gegen die Zumutungen der Postmoderne.

Für den Träumer ist Klafkis Hinweis auf die »weltbürgerliche Absicht« nicht ein bloßes Aperçu, sondern eine verpflichtende Aufforderung, die Erzählung der Aufklärung wieder aufzugreifen und fortzuführen. Für den Träumer ist auch ein Kanon von Erzählungen, zu denen Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« oder in äquivalenter Funktion: »Zum ewigen Frieden« Weischedel1968 gehören könnte, kein Sakrileg mehr. Solche Erzählungen eines Meisterdenkers, ihre gemeinsame Lektüre und Interpretation sind für den träumenden Philosophielehrer der roter Faden seiner Unterrichtsplanung, die angesichts der vielen Anschlussmöglichkeiten variabel und immer wieder neu gestaltet werden kann und muss – mit Blick auf seine Schüler und die Aktualität, auf weitere Gesprächspartner im anstehenden Diskurs und das Faktenwissen der Einzelwissenschaften. Für einen solchen Lehrer erhielte die Planung auf dem ansonsten so gescholtenen Gang über die Schulkorridore und die Schwelle zum Unterrichtsraum fast einen peripatetischen Sinn.

Als konkretisierendes Beispiel könnte das Thema der nächsten Unterrichtsstunde lauten: »Perspektiven einer zukünftigen Entwicklung: >Staatenbund<, >Weltrepublik< oder >kosmopolitische Gemeinschaft<?« Unser träumender Philosophielehrer weiß aus Erfahrung, dass Schüler eher über die Anthropologie zu Kants historischen und politischen Überlegungen finden. Also wird er eine Interpretation eines Zitats aus dem viertem Satz der »Idee« anregen:

»Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d.i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist« (Weischedel1968, Bd. 9, S. 37).

Der Träumer fragt sich, wo er das Zitat dieses wunderbaren Textes enden lassen soll, sodass sich der Antagonismus als Triebfeder eines geheimen Plans der gesellschaftlichen Entwicklung – bis zur Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung und eventuell einer Entwicklung über die einzelstaatlichen Grenzen hinaus – den Schülern erschließt? Offen bleibt dabei indes, in welches Stadium dieser Prozess letztendlich laufen wird. Im zweiten Definitivartikel »Zum ewigen Frieden« betont Kant explizit, »dass an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der Recht scheuenden, feindseligen Neigung aufhalten könne, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs« (Weischedel1968, S. 213).

Während Kant also einen weltbürgerlichen Zustand mit Blick auf zeitgleich laufende Versuche, den Himmel zu vermessen, in eine astronomisch weite Zukunft rückt – er spricht in diesem Zusammenhang von der Träumerei eines philosophischen Chiliasmus – greift Habermas die »Erzählung von der zivilisierenden Kraft der Verrechtlichung über nationale Grenzen hinaus« mit neuer Akzentsetzung und Impulse gebender Semantik wieder auf Habermas2011. Er drängt darauf, dass eine »kosmopolitische Verbindung von Weltbürgern« oder die »politische Verfassung der Weltgesellschaft« mit der Konsequenz einer allerdings für ihn eingeschränkten Weltinnenpolitik keine pure Gedankenkonstruktionen mehr darstelle und nicht mehr in galaktische Ferne gerückt seien. »In dem Maße, wie die Funktionssysteme der im Entstehen begriffenen Weltgesellschaft durch die nationalen Grenzen hindurchgreifen, entstehen externe Kosten von einer bisher unbekannten Größenordnung Probleme und Risiken der Ökonomie, der Ökologie, der Gen- und Großtechnologie etc. – und damit ein Regelungsbedarf, der die bestehenden politischen Handlungskapazitäten überfordert« (Habermas2011, S. 83) Die Ungeduld von Habermas angesichts der vorsichtigen Sondierung der Zukunft durch Kant wird in diesem Punkte fast physisch spürbar, wenn er etwa in einer Kapitelüberschrift fragt: »Warum nur das >Surrogat< des Völkerbundes?« Habermas bleibt sich bei allem Drängen der enormen Schwierigkeiten seiner der Gegenwart näheren Vorstellung einer »kosmopolitischen Gemeinschaft« durchaus bewusst und verschweigt nicht die sich daraus speisende Skepsis. Die Logik seiner Gedankenführung orientiert sich jedoch unbeirrbar an dem Glauben einer grundsätzlichen Machbarkeit. Deshalb will er auch an der bereits vorhandenen Struktur der UNO ansetzen und die Vereinten Nationen in dem Sinne reformieren, dass Repräsentanten der Weltbürger und Nationalstaaten die Verfassung gebenden Subjekte der Weltgemeinschaft werden. Habermas sieht also die »Weltrepublik« nicht im Horizont des Möglichen und Wünschenswerten und deshalb will er auch den Aufgabenbereich der Vereinten Nationen auf die Kernfunktionen der Friedenssicherung und der globalen Durchsetzung der Menschenrechte konzentrieren. Die Konsequenzen für neben- und nachgeordnete Ebenen – etwa die Entwicklung eines globalen Polizeirechts – können in diesem Kontext nicht einmal im Ansatz dargelegt werden.

Die Zurückhaltung von Habermas gegenüber einer weltrepublikanischen Verfassung, in der über Friedenssicherung und Menschenrechte hinaus die nationalstaatlich übliche Breite politischer Themen ausgehandelt würde, gründet vor allem in dem Zweifel, eine entsprechende Weltöffentlichkeit herstellen zu können. Habermas weist darauf hin, dass eine entsprechende Verbindung der Weltbürger über Kommunikationskreisläufe der Weltöffentlichkeit nicht mehr in den Kontext einer gemeinsamen politischen Kultur eingebettet sei. Er schreibt: »Die transnationale Erweiterung der Bürgersolidarität, auf die wir im Falle einer territorial begrenzten und durch gemeinsame geschichtliche Erfahrung geprägten Union von Bürgern und Staaten noch rechnen dürfen, läuft, wenn sie ein weltweites Format annehmen soll, gewissermaßen ins Leere.

Mit der Bezugnahme auf eine intersubjektiv geteilte politische Kultur kann sich jedes politische Gemeinwesen, und sei es noch so groß und pluralistisch, von seiner Umwelt unterscheiden. Daher sind demokratische Wahlen das Ergebnis einer gemeinsamen praktizierten Meinungs- und Willensbildung, der normalerweise die Selbstreferenz auf das >Wir< einer partikularen, weil begrenzten Gemeinschaft eingeschrieben ist ... Weltbürger bilden kein Kollektiv, das durch das politische Interesse an der Selbstbehauptung einer identitätprägenden Lebensform zusammengehalten würde.« (Habermas2011, S.89f). Die von Habermas entwickelten Zukunftsperspektiven umgibt trotz aller auch konkreten Umsetzungsvorschläge ein Flair des »Hehrn«. Ein Reporter der ZEIT hat Habermas deshalb mit weniger Zurückhaltung bedrängt: »Sie halten an Kants Kosmopolitismus fest und nehmen die von Carl Friedrich von Weizsäcker ins Spiel gebrachte Idee einer Weltinnenpolitik auf. Mit Verlaub, das klingt ziemlich illusionär.« Etwas später zeigt der Interviewpartner dann seine Belesenheit: »Die Rede von >Weltinnenpolitik< klingt eher nach den Träumen eines Geistersehers« Anspielung auf einen bekannten Titel eines Kant-Textes . Habermas Verteidigung ist so schlicht wie überzeugend: »Noch gestern hätten es die meisten für unrealistisch gehalten, was heute passiert.«

Bei der Thematisierung der Differenz von Weltbürgertum und regional begrenzter Gemeinschaft drängt sich eine dritte Stimme aus den Tiefen des Schlafes in meinen Traum, die Stimme von Hermann Lübbe. Während Habermas in den aufsteigenden Traumbildern eher als >links< einzustufen ist, gilt Hermann Lübbe, Mitglied des berühmten collegium philosophicum um Joachim Ritter, eher als >liberal-konservativ< –, soweit man solche Attributierungen heute überhaupt noch akzeptiert. Mit >links< pflegt unser träumender Philosophielehrer jene Denker zu charakterisieren, die an dem Herr-Knecht-Schema orientiert für die Befreiung der Knechte und den Frieden in einer versöhnten Welt kämpfen. Mit >liberal-konservativ< wird für ihn eine Einstellung gekennzeichnet, die unter dem Eindruck der totalitären Systeme im vorigen Jahrhundert und deren Zusammenbruch bewusst wieder an der Aufklärung anknüpft und in Orientierung an der Lebenswelt den Blick für das pragmatisch Machbare zu schärfen sucht. Auch Hermann Lübbe hat sich 2005 dezidiert zum Thema Globalisierung geäußert. Der ungewöhnliche Titel »Die Zivilisationsökumene« Luebbe2005 erschien dem Autor in einem Nachwort eigens erläuterungsbedürftig. Die »Zivilisationsökumene« ist ihm ein bewusst gewähltes verbales Äquivalent zur Bezeichnung einer Weltgesellschaft, die er als Ergebnis der globalen Ausbreitung der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation sieht, ohne entscheidende Differenzen zu nivellieren. »Weltumspannend legt sich die wissenschaftlich-technische Zivilisation über den kontingenten Pluralismus der religiösen und sonstigen Herkunftskulturen ldots« (Luebbe2005, S. 203f). Der Begriff »Zivilisationsökumene« soll mit seinen religiösen Konnotationen den Blick dafür offen halten, »dass der Prozeß der zivilisatorischen Globalisierung nicht nur die Oberflächen unserer Lebensverbringung berührt. Die nachrichtentechnische Integration des Globus hat gewiss ihre banale Seite, und für die progressive Entgrenzung der Kapitalmärkte gilt Analoges. Aber die Rückwirkungen und Nebenwirkungen der Globalisierung berühren die Kulturen in ihren tieferen Schichten bis hin zur religiösen Verfassung dieser Kulturen« (a.a.O. S. 205).

Anm.: Lübbe ist mit seinem zunächst befremdlichen Titel seinem eigenem Misstrauen gegenüber Neologismen nicht gefolgt. Vielleicht mag es daran liegen, dass sich nur ansatzweise Spuren seiner Argumentation in der Globalisierungsdebatte finden. Vgl. das zwischenzeitlich erschienene Lexikon zum Thema »Globalismus« – Kreff2011.

Unser träumender Philosophielehrer ahnt, dass didaktisches Denken, insofern es im Kern ein begründetes Reduzieren ist, immer auch Trauerarbeit um den Verlust all der gerade auch für Heranwachsende interessanten Themenfacetten bedeutet, die aus zeitlichen und räumlichen Gründen nicht weiter vertieft werden können: die von Lübbe und bereits von Kant angesprochene »Schließung der Erde« mit ihren Konsequenzen für ein utopisches Denken – den Verlust eines Anderswo; ein mittlerweile eher resignierender Blick auf eine Migration der Menschheit in das Weltall, das Festhalten an einem Denk- und Wissensbegriffs, der Curiositas und Relevanz umfasst, und die Reflexion einer repolitisierten Religion.

Lübbes Beitrag in meinem Traum konzentriert sich auf die globale Verbreitung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation westlichen, im engeren Sinne europäischen, Ursprungs. »Nach Tempo, Reichweite und Nachhaltigkeit ist die inzwischen erreichte Omnipräsenz dieser Zivilisation konkurrenzlos, und jeder amerikanische oder europäische Tourist, der eine Weltreise in der Absicht unternimmt, sich Anschauung fremder Kulturen zu verschaffen, findet sich den kulturellen Interferenzeneffekten ausgesetzt, die aus der Ausbreitungsdynamik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation resultieren. Er sucht die Pagoden oder die präkolumbanischen Pyramiden oder die Chinesische Mauer, und über alle erheben sich am Horizont seiner Landeplätze die Hochhauswälder der Megastädte von Shanghai bis Mexiko und von Lagos bis Kairo. Gewiss: Auch symbolisch hochbedeutsame Kulturelemente nicht-westlicher Herkunft breiten sich gegenwärtig, vor allem im Westen, rasch aus – Moscheen oder auch emanzipationsresistente, verhüllungsdienliche Bekleidungssitten. Aber das alles begegnet uns nahezu exklusiv im Kontext der Migrationströme. Kulturkonversionen ereignen sich dabei extrem selten – am ehesten noch über Partnerschaftsbildung in Unterschichtenmilieus einerseits und im Sondermilieu zivilisationkritisch motivierter Intellektueller andererseits, die uns dann und wann als Neo-Buddhisten oder als selbstgewisse Neu-Muslime begegnen« (Lübbe a.a.O., S. 65f). Lübbe empfiehlt, diese Ausweitungsdynamik möglichst unverkrampft zu sehen. Er kritisiert die »Selbstmissbilligung«, der sich Angehörige der westlichen Kulturintelligenz zuweilen mit Blick auf einen tatsächlichen oder nur vermeintlichen Eurozentrismus und die Erblasten des Kolonialismus unterwerfen. »Der globale Ausbreitungserfolgt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation verdankt sich der Evidenz der mit ihr sich verbindenden Lebensvorzüge. Diese Evidenz bringt sich global kraft ihrer anthropologischen Universalität zur Geltung. Was es heißt, weniger als zuvor, hungerbedroht zu existieren, versteht jedermann …. Der Vorzug, länger und überdies länger gesünder zu existieren, ist im Regelfalle aufklärungsunbedürftig. Für die anspruchsvolleren hygienischen Bedingungen dieses Vollzugs gilt das schon nicht mehr. Soweit diese Bedingungen sich aber herumgesprochen haben, werden auch sie kulturevolutionär wirksam, und besseres Wasser zum Beispiel empfiehlt sich alsdann von selbst« (a.a.O., S. 68).

Solche Lebensvorzüge sind also in der Regel nicht missionsbedürftig – ein kleiner Seitenhieb, den Lübbe sich gegen die »Ideologenszene mit ihren Inspirationen säkularisierter Heilsgewissheit« (a.a.O., S. 71) nicht verkneifen kann. Die Notwendigkeit einer globalen Weiterentwicklung zu einer effizienten Rechtskultur – verbunden mit der Anerkennung der Menschenrechte und einer gewissen Emanzipationzumutung – ist auch für Lübbe unabweisbar. Allerdings betont er wie Habermas das Bleiben einer Differenz: »Die Lebensvorzüge der modernen Zivilisation haben nicht die Eigenschaft, entweder total oder oder gar nicht in Anspruch genommen werden zu müssen. Sie sind auch partiell genießbar« (a.a.O., S. 78). Für Lübbe wiederholt sich hier ein an Kant erinnernder Antagonismus, über den er bereits früher am Beispiel der Geschichte Frankreichs das Wirken von Zentralismus und Regionalismus erläutert hat. Transnationale Kooperationszwänge korrespondieren gleichzeitig mit einer Pluralisierung der Staatenwelt. Eine zunehmende zivilisatorische Globalisierung führt gleichzeitig zu einer zunehmenden Rückwendung zu den jeweiligen Herkunftskulturen.

Lübbe spricht eher skeptisch ber die Wahrscheinlichkeit der »Herausbildung staatlich verfasster oder kontrollierter Großräume« (a.a.O., S. 99). Er erwähnt in diesem Zusammenhang eine gewisse politische »k.u.k.-Romantik«. Ist es Zufall, dass unser Träumer erst vor kurzem von Robert Musil den »Mann ohne Eigenschaften« gelesen hat, in dem es in einem zentralen Erzählstrang um ein »Größer-Österreich, ein Weltösterreich« geht, befördert durch eine diffuse Parallelaktion? Der Literaturwissenscahftler Arntzen kommentiert das wie folgt: »Die Parallelaktion wird zur Bezeichnung eines Geschehens, unter dem sich jeder alles und keiner etwas Bestimmtes vorstellen kann, doch gerade als solche ist sie die angemessene Bezeichnung fast allen öffentlichen und privaten Geschehens in dieser Zeit« (Arntzen1972, S. 16). Diotima Tuzzi, in deren Salon erlesene Gäste die Parallelaktion diskutieren, schlägt vor, »das Große und Ganze durch Ausschüsse verwalten zu lassen, die nach der vorbildlichen Einteilung der Ministerien zu schaffen seien. Steht für sie doch fest, dass diese Ministerien schon die Einteilung der Welt nach ihren Hauptgesichtspunkten darstellen« (a.a.O., S. 18). Ist dieses Bewusstsein, dass die verwaltete Welt eine prästabilisierte Harmonie sei, nicht auch in der Gegenwart lebendig – in den Diskussionen um die Globalisierung und ein Curriculum mit universalem Anspruch?

Jedoch bevor sich unser schlafender Lehrer jetzt in Träume von Diotima, Rachel oder Agathe verliert, lassen wir ihn aufwachen. Er hadert damit, dass sich die impliziten Unterrichtsplanungen seines Traumes schnell verflüchtigen, sodass er sie nicht schriftlich notieren kann. Und überhaupt, vielleicht werden die Schüler gar nicht über die Texte von Kant, Habermas und Lübbe diskutieren wollen. Für sie sind vielleicht Themen wie Guantanamo oder andere Beispiele regionaler Demokratieregressionen viel brennender. Sollte unser Traumlehrer die Schüler in diesem Zusammenhang vielleicht mit einem Text zur »Postdemokratie« von Colin Crouch Crouch2011 konfrontieren? Bekäme damit sein Unterricht nicht eine zu defätistische Richtung? Könnte er nicht als eine Anspielung auf eine Beerdigung missverstanden werden – eine Anspielung, für die Kant mit seinem Hinweis >Vorbemerkung zum »Zum ewigen Frieden«< (S. 195) auf das »Schild jenes holländischen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war« vielleicht aufgeschlossen gewesen wäre.

Mit und in der Differenz leben – »Hybridität« als mögliches Paradigma für didaktisches Denken?

Nach diesem Traum ist die bereits oben gestellte Frage in differenzierterer Form erneut aufzugreifen: »Lassen sich ein universaler rechtlicher und zivilisatorischer – Horizont und regionale kulturelle Verankerungen über Bildung identitätsstiftend vermitteln?«

Es dürfte ein fragwürdiges Unternehmen sein, eine solche Bildung von einem fiktiven »Weltbürger« einer fiktiven »Weltrepublik« ableiten und durch eine entsprechende Didaktik begründen zu wollen. Die hier ins Gespräch gebrachten Philosophen – Kant, Habermas und Lübbe – sind Fürsprecher der Aufklärung, sie haben jedoch Skepsis gegenüber einer alle nationalstaatlichen Funktionen übernehmenden »Weltrepublik« geäußert und die Verwurzelung der Menschen in ihren jeweiligen staatlichen Verfassungen bzw. regional kulturellen Lebenswelten betont. Diese Lebenswelten können sich in ganz unterschiedlichen Spannungsverhältnissen zu einer transnationalen Rechtskultur – im Sinne der Sicherung des Friedens und der Menschenrechte – bzw. zu einer globalen wissenschaftlich-technischen Zivilisation befinden. Über eine von einigen Intellektuellen befürchtete Technokratie – eine »Nova Atlantis« 2.0 – lässt Lübbe den common sense triumphieren. Die Menschen werden sich auf den gesunden Menschenverstand berufen – nach dem Beispiel: »Dem Schuhmacher kann in der Kunst des Schuhemachen tatsächlich kein Laie etwas vormachen. Aber ob seine Schuhe passen – eben darüber urteilt souverän eben dieser Laie, und so in allem« (Luebbe2005, S. 88)

Die Menschen leben also in einer verdoppelten Welt – einer regionalen und einer globalen. Aus der hier liegenden zweifachen Herausforderungn ergibt sich die Frage, ob (und wenn ja: wie) der Anspruch einer universalen Allgemeinbildung »Allen auf dieser Erde Alles zu lehren« unter den heutigen Bedingungen überhaupt noch sinnvoll und ohne innere Widersprüche aufrecht erhalten werden kann. Bedarf es in dieser Situation nicht vielmehr einer verdoppelten Bildung?

Abschließend möchte ich zur Diskussion stellen, ob der Begriff »Hybridität« vielleicht einen Forschungsrahmen für die hier erforderliche didaktische Ruflektion darstellen könnte.

Naiv gebraucht ist dieser Begriff heute im Allgemeinen positiv besetzt und den meisten wohl aus der Werbung für Automobile bekannt. Er signalisiert Fortschrittlichkeit und gilt als Garant der geschätzten Mobilität. Sozialwissenschaftlich spielt der Begriff in der Globalisierungsdebatte eine ambivalente Rolle. Einerseits betrachten viele Sozialwissenschaftler »die Globalisierung weniger als einen vom Westen ausgehenden Homogenisierung- oder Modernisierungsprozess, sondern als Hybridisierung im Feld der Kultur- und Identitätsbildung. Sie betonen damit die soziokulturelle Vielfalt, die aus dem verflochtenen Verhältnis Lokal/Global hervorgeht.« (Kreff2011 s.v. Hybridität). Die wissenschaftliche Seriosität eines solchen Forschungsansatzes kann mit Blick auf entsprechende Forschungsvorhaben unterstellt werden; man vergleiche dazu das Forschungsprogramm über »Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle« an der Humboldt Universität in Berlin (www.heymat.hu-berlin.de Zuletzt gelesen 1. August 2012). Das eher auf eine Ebene ausgerichtete Forschungsdesign »Deutsch-Sein und Muslim-Sein« wäre für mehrere Ebenen z.B. im Sinne von »Deutsch-Sein und Global-Sein« umzuformulieren bzw. zu ergänzen. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass der Begriff »Hybridität« im Kolonialismus-Diskurs des 19. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt hat, indem er die Angst der Kolonialherren gegenüber den Kolonialisierten als dem sozial und biologisch »Anderen« zum Ausdruck brachte KreffPilcher2011. Jedoch wird man mit solchen Reminiszenzen umgehen können.

Wichtiger erscheint mir, dass bei einer Verdoppelung der Bildung, bei einem empirisch zu beobachtenden Zusammentreffen unterschiedlicher Sprachlogiken und Bewusstseinsformen Spannungen entstehen können, die ein Subjekt mit oder ohne Leid schlicht erträgt oder die es gegebenenfalls als unzumutbar und zum Widerstand aufrufend erfährt. Ich sehe nicht, wie an dieser Stelle die Kategorie einer einheitlichen Bildung ihre zentrierende Funktion weiter behaupten kann. Stattdessen mache ich mich dafür stark, die Position der hier in Anspruch genommenen Funktion mit einem weiter entwickelten Konzept der personalen und sozialen Identität zu besetzen. Es kommt darauf an, die Menschen angesichts von Rollenkonflikten zu stärken.

Die Zumutung konfligierender sozialer Rollen ist kein Phänomen der Neuzeit, sondern eine universal gegebene anthropologische Erscheinung. Das Problem wird nach einer Phase der nationalsozialistischen Diskursunterdrückung auch in den Sozialwissenschaften in Deutschland seit Dahrendorfs »Homo sociologicus« in der hier verwendeten Terminologie diskutiert bzw. ausdifferenziert. Als neu könnte man vielleicht das Ensemble der Zumutungen bezeichnen. Die Zumutungen werden heute um eine potenziell konfligierende soziale Rolle erweitert, die Rolle eines globalen Mitspielers.

Ein didaktisches Hybridmodell hätte in Kooperation mit den Sozialwissenschaften eine zweifache Aufgabe zu erfüllen. Es müsste fragen, wie Heranwachsende mit Blick auf eine globale Friedensordnung und auf die Wahrung der Menschenrechte erzogen werden können. Gleichzeitig wäre aus den ganz unterschiedlichen regionalen Perspektiven heraus zu fragen, wie das Hineinwachsen in eine – notwendig immer begrenzte – Lebensform gelingen kann. Dort, wo diese Ansprüche in einen möglichen Konflikt geraten könnten, wären die Sozialwissenschaften aufgerufen, entsprechende Konzepte vorzulegen, um die Akteure zu stärken.

So gesehen müsste die Allgemeine Didaktik auf nicht absehbare Zeit ihren Anspruch auf Einheitlichkeit und Alleinvertretung aufgeben und sich zumindest teilweise wieder verstärkt regionalisieren. Im möglichen Widerstreit zwischen globalen und regionalen Erwartungen gibt es keinen didaktischen Gerichtshof. Die Akteure bleiben auf sich selbst verwiesen und können allenfalls in ihrer Urteilskraft gestärkt werden. Die erneute Lektüre der »Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation 1968« von Habermas Habermas1973 und ihre Interpretation unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre dazu ein guter Anfang.

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