rhino didactics Logo rhino didactics Logo-Hintergrund

mit Google im Archiv der rhino didactics

urn:nbn:de:0043-rhinodidactics-34-4 – Ausgabe 34 vom 1. Dezember 2010 (als PDF)

30. Dezember 2010

Zum Stand der Bildungsgangforschung und Bildungsgangdidaktik

Ingrid Kunze (Osnabrück), Matthias Trautmann (Siegen) und Meinert Meyer (Hamburg)

Erweiterte Fassung der Präsentation auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im März 2010 in Mainz [Präsentation als PDF-Datei]

 

Die Grundthese der Bildungsgangforschung und -didaktik lautet, dass für die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen der Bildungsgang der Lehrenden auf der einen Seite und erst recht auf der anderen Seite der Bildungsgang der Lernenden von größter Bedeutung sind und dass dies in den verschiedenen didaktischen Modellen, die es in Deutschland gegeben hat, nicht angemessen berücksichtigt wurde.

I. Kontext und theoretische Bezugspunkte der Bildungsgangdidaktik

In dem von Herwig Blankertz (1927–1983) geleiteten Kollegschul-Versuch Nordrhein-Westfalen in den 1970er Jahren hat erstmals der Begriff des Bildungsgangs einen Stellenwert erhalten, der über die alltägliche Verwendung an berufsbildenden Schulen hinausgeht. Diese alltägliche Verwendung fasste den Bildungsgang als das Curriculum, das den Auszubildenden in der Berufsschule präsentiert wird. Blankertz und seine Mitarbeiter haben diesen Bildungsgang später als »objektiven« Bildungsgang bezeichnet und ihm den »subjektiven« Bildungsgang gegenübergestellt und damit das gemeint, was die Heranwachsenden in der Institution Schule für sich selbst aus dem Lehrprogramm machen, das die Schule ihnen präsentiert.

Für die theoretische Konzeption der Einheit von objektivem und subjektivem Bildungsgang ist der Begriff der »Entwicklungsaufgabe« bedeutsam geworden. Entwicklungsaufgaben sind im Anschluss an Robert J. Havighurst (1900–1991) Anforderungen, die gesellschaftlich determiniert sind, aber von den Heranwachsenden individuell realisiert und bearbeitet werden. Sie sind – wie Barbara Schenk formuliert hat – »Motor ihres Lernens« (vgl. Schenk 2005) und stehen als solche zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und der individuellen Entwicklung. Robert J. Havighurst formulierte das so: »A developmental task is midway between an individual need and a societal demand« (Havighurst 1972, S. 6). Die erfolgreiche Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben soll – so das Konzept der Bildungsgangforschung – Identität fördern und Kompetenzen entfalten.

Entwicklungsaufgaben für Jugendliche sind immer wieder identifiziert worden:

Das Verhältnis des Entwicklungsaufgabenkonstruktes zu dem Konstrukt der Allgemeinen Bildung – wie es an deutschen Schulen vertreten wird und das u.a. von Wolfgang Klafki und Wolfgang Schulz beeinflusst worden ist – ist nicht unproblematisch. Die Entwicklungsaufgaben – Beruf, Peer, Werte der Gesellschaft etc. – lassen sich nicht ohne weiteres in Unterrichtsfächer umschreiben. Andererseits geht die allgemeinbildende Schule davon aus, dass das Gesamtpaket der Anforderungen im Ensemble der Unterrichtsfächer und ggf. im fächerübergreifenden Unterricht sich dafür eignet, den Heranwachsenden das zu vermitteln, was sie für ihr Leben in der Gesellschaft benötigen. Das Abarbeiten an diesem Allgemeinbildungskonzept ist – so betrachtet – eine einzige gigantische Entwicklungsaufgabe, die aber nicht zwischen den individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen der Heranwachsenden auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Anforderungen auf der anderen Seite unterscheidet.

In der Bildungsgangforschung und -didaktik kommt, wie schon eingangs gesagt, der Perspektive der Lernenden eine besondere Bedeutung zu.
Im Antrag auf Einrichtung und Förderung des DFG-Graduiertenkollegs Bildungsgangforschung ist das wie folgt formuliert worden:

»Bildungsgangforschung ist zunächst Lehr-Lern-Forschung und damit in der Institution Schule Unterrichtsforschung. Sie betont dabei mit der Konzentration auf den Gang der Bildung die Perspektive der Lernenden. Bildung ist ein sozialisatorischer Prozess, in dem sich das Selbst entwickelt, mit Krisen, Regressionen, Brüchen, Entwicklungsschüben und Aufbrüchen. Die Förderung von Bildung bedarf daher einer Kultur, die nicht nur die Reproduktion der Gesellschaft sichert, sondern zugleich gesellschaftliche Transformation ermöglicht. Wir erforschen, wie sich Heranwachsende und junge Erwachsene in Lehr-Lern-Situationen verhalten, wie sie ihre Lernaufgaben deuten und was getan werden kann, um die Bildungsprozesse der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen zu fördern. Uns interessiert, wie sie sich nicht nur Wissen und Können, sondern zugleich auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zu verantwortlichem Handeln in einer Welt entwickeln, die zunehmend komplexer und schwieriger wird« (Antrag auf Einrichtung und Förderung eines Graduiertenkollegs, Meinert A. Meyer u.a., Hamburg 2001, S. 3).

Bildungsgangforschung ist also von Anfang an erstens auf die gesellschaftliche/ sozialwissenschaftliche Dimension von Schule und Unterricht und zweitens auf die erziehungswissenschaftlich-psychologische, stärker individuelle Problementfaltung verpflichtet. Wir untersuchen, wie sich Kompetenz und Identität im Spannungsfeld gesellschaftlicher Ansprüche und individueller Entwicklungsperspektiven entfalten.

Es versteht sich, dass bei einer solchen Fragestellung ein enger Bezug zu den Fachdidaktiken entsteht. Im Graduiertenkolleg »Bildungsgangforschung« ist umfangreich fachdidaktisch gearbeitet worden.

II. Empirische Zugänge

Die vorliegenden Arbeiten zur Bildungsgangforschung und Bildungsgangdidaktik sind vorwiegend qualitativ-rekonstruktiver Art (Interviews, Gruppendiskussionen, interpretative Unterrichtsanalyse etc.). Dabei ist für die Auswertung der erhobenen Daten immer wieder auf Ulrich Oevermann und auf Ralf Bohnsack und damit auf die objektive Hermeneutik und die dokumentarische Methode Bezug genommen worden; außerdem gab es Bezüge zur Grounded Theory von Glaser/Strauss. Zielsetzung war es dabei, die Perspektive der Akteure gegenüber den objektiven Anforderungen besser herauszustellen. Es ging also um die Klärung der Frage, wie das Lehren/Lernen und der Unterricht von den Beteiligten wahrgenommen werden. Dementsprechend sind immer wieder Fallstudien erstellt worden.

 

Im Thesaurus der Rhino Didactics finden Sie eine Bibliographie mit Publikationen, die i.W. im Rahmen der Reihe »Studien zur Bildungsgangforschung« erschienen sind:

Damit Sie die Daten für Ihre jeweiligen Bedarfe nutzen können, stellen wir sie in verschiedenen Formaten zur Verfügung.

Aus der Perspektive der Bildungsgangdidaktik ist es wichtig, dass weiter an der Konkretisierung der Anforderungen gearbeitet wird, die Unterrichten möglich machen (vgl. Meyer 2008, S. 117ff). Hingewiesen sei darauf, dass Meinert A. Meyer eine Publikation zur Schulpädagogik und allgemeinen Didaktik plant, die aus der Perspektive der Bildungsgangforschung Handlungsempfehlungen für die Unterrichtsgestaltung auf empirischer Basis präsentieren soll.

III. Thematische Schwerpunkte und ausgewählte Forschungsarbeiten

Die thematischen Schwerpunkte der Bildungsgangforschung und -didaktik orientieren sich am traditionellen didaktischen Dreieck und bringen dabei die Bildungsgangperspektive ein:

Einfaches didaktisches Dreieck

Dies heißt: Wir haben erstens Lerner-Vorstellungen, ihre Sinnkonstruktionen und deren Implikationen für den Unterricht untersucht (z.B. Spörlein 2003, Kolb 2006, Born 2007, Lechte 2008, Meyer-Hamme 2009, Monetha 2009, Trautmann i.V.).

Ebenso wichtig wie die Lerner-Vorstellungen und damit die Schülerperspektive sind zweitens die Lehrer-Vorstellungen, ihre professionelle Entwicklung und vor allem auch ihre Selbstwahrnehmung (z.B. Kunze 2004, Hericks 2006, Neuß 2009). Für alle Arbeiten im Rahmen des Graduiertenkollegs und der Arbeitsgruppe Bildungsgangsforschung gilt drittens, dass der »Stoff«, die Curricula, die Unterrichtsinhalte, die Lernmöglichkeiten und Lernfahrungen der Schüler zentral waren und zentral sind. Dementsprechend ist unsere Arbeit elementar fachdidaktisch ausgelegt. Wir haben die Rekonstruktionen fachunterrichterlicher Interaktionen unter Perspektiven wie Sinnkonstruktion und Partizipation untersucht (z.B. Jessen 2003, Meyer/Kunze/Trautmann 2007, Ziegler 2008, Petrik 2007, Merziger 2008, Hahn 2007) und damit Lehren und Lernen auch aus institutioneller Sicht betrachtet.

Die Schülerperspektive, die Lehrerperspektive und die thematische Orientierung, wie sie sich aus dem didaktischen Dreieck ergeben, müssen aus der Perspektve der Bildungsgangforschung sinnvollerweise um den Begriff »Unterricht« ergänzt werden, und beim Unterricht denken wir zunächst an schulischen Unterricht, so dass damit auch die Institution Schule in ihrem gesellschaftlichen Umfeld in den Blick nehmen.

Erweitertes didaktisches Dreieck

Uns liegt aber an dem Hinweis, dass innerhalb der Bildungsgangforschung bis jetzt die Schule als Institution in ihrem gesellschaftlichen Umfeld noch nicht ausreichend empirisch bearbeitet worden ist, wenn man von der nachfolgend präsentierten Arbeit von Uwe Hericks absieht.

Drei Publikationen, die exemplarisch für die drei genannten thematischen Schwerpunkte stehen, seien jetzt etwas näher vorgestellt:

III.1 Annika Kolb 2007: Portfolioarbeit. Wie Grundschulkinder ihr Sprachenlernen reflektieren

Annika Kolb rekonstruiert lernförderliche Prozesse der Portfolioarbeit und die subjektiven Theorien der Schülerinnen und Schüler zu ihrem Fremdsprachenlernen.

author={Annika Kolb}, year=2007, title={{Portfolioarbeit. Wie Grundschulkinder ihr Sprachenlernen reflektieren}}, isbn13={978-3-82336281-4}

Annika Kolb – Portfolioarbeit. Wie Grundschulkinder ihr Sprachenlernen reflektieren

Dabei ist auffällig, dass schon Grundschüler verschiedene fremdsprach–didaktische »Theorien« vertreten. Es gibt also zum Beispiel Kinder, die im Vokabelnlernen die wichtigste Tätigkeit sehen, andere gehen davon aus, dass man im Gespräch, in der Interaktion, die fremde Sprache lernt etc. Zugleich hat Annika Kolb das Konzept der Portfolioarbeit weiter entwickelt und in Unterrichtsaufnahmen Reflexionsgespräche mit den Schülern umfangreich dokumentiert und analysiert.

III.2 Uwe Hericks 2006: Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe

Uwe Hericks hat die Berufseingangsphase von Lehrkräften rekonstruiert, indem er sie zum Ende des Referendariats und in der Eingangsphase ihrer vollen Lehrtätigkeit in so genannten berufsbiografischen Fortsetzungsinterviews befragt hat. Mit einer Kombination von dokumentarischer Methode im Anschluss an Ralf Bohnsack und objektiver Hermeneutik im Anschluss an Ulrich Oevermann hat er ausgewählte Fälle rekonstruiert und dabei professionelle Entwicklungsaufgaben identifiziert. Er geht davon aus, dass jeder Lehrer und dem zuvor jeder Referendar erstens vor der Entwicklungsaufgabe steht, seine Kompetenz auszubauen und zu klären, wie sie im Lehrbetrieb einsetzt und wo die Grenzen seiner Kompetenz liegen.

author={Uwe Hericks}, year=2006, title={{Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe}}, isbn13={978-3-531-15080-2}

Uwe Hericks – Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe

Jeder Berufsanfänger hat zweitens zu klären, wie er seine Vermittlungsaufgabe versteht – also die Weitergabe desjenigen Wissens und Könnens, das seine Unterrichtsfächer präsentieren, an die Schüler. Drittens hat jeder Berufsanfänger zu klären, wie die Schüler, die ganz andere Interessen und Sinnkonstruktionen einbringen als er selbst, von ihm anerkannt werden können und wie sie ihn als Experten seiner Fächer und darüber hinaus in seiner Erziehungsfunktion anerkennen können. Viertens und letztens hat der Berufsanfänger zu klären, wie er in der Institution Schule kooperieren kann – zunächst mit den Peers, seinen Mitreferendaren, dann aber auch mit seinen Vorgesetzen und den berufserfahreneren Kollegen.

III.3 Stefan Hahn 2007: Identitätsdiskurse und Demokratie-Lernen im Unterricht

Stefan Hahn hat ein Lehrstück konzipiert und ausgewertet, das in einer Einheit von 20 bis 30 Unterrichtsstunden im Fach Politik eingesetzt werden kann.

author={Stefan Hahn}, year=2007, title={{Identitätsdiskurse und Demokratie-Lernen im Unterricht}}, isbn13={978-3-86649080-2}

Stefan Hahn – Identitätsdiskurse und Demokratie-Lernen im Unterricht

Gegenstand des Stücks ist die Gründung einer Dorfgemeinschaft, und die Zielsetzung ist dabei, Urteilsfähigkeit als Element politischer Identität auszubilden. Die empirische Untersuchung ist in vier Klassen der Jahrgangsstufe 8 und zwei Klassen der Jahrgangsstufe 10 durchgeführt worden. Im Wesentlichen ging es dabei um eine Sequenzanalyse der Argumentationen, die die Schüler eingebracht haben, um das Leben in der Dorfgemeinschaft aus politischer Perspektive zu begründen, z.B.: Wie geht man im Dorf mit Dieben um? Wie teilt man die Arbeit auf? Ist es gerecht, wenn es Bevorzugungen gibt? Zugleich wurden im Sinne der Bildungsgangforschung die subjektiven Bildungsgänge der Schüler erforscht, ihre Entwicklung politischer Kompetenz und Identität. Dabei war das Forschungs-Setting qualitativ: Es ging um die Klärung der Frage, wie man ein didaktisches Konzept, das Lehrstück »Gründung einer Dorfgemeinschaft«, forschungsmethodisch angemessen bewerten kann.

IV. Das Verhältnis der Bildungsgangforschung zur Lehr-Lern-Forschung und zur empirischen Bildungsforschung

In der Erziehungswissenschaft ist gegenwärtig eine starke Orientierung an der international ausgerichteten, quantitativ ausgelegten Bildungsforschung im Sinne von TIMMS und PISA zu erkennen. Die »blinden Flecken« dieses Zugriffs geraten dabei häufig aus dem Blick.

Gegen diesen herrschenden Trend setzen wir in der Bildungsgangforschung den Anspruch, einen eigenen Beitrag zur Bildungsforschung liefern zu können, weil die empirische Bildungsforschung bis jetzt keinen systematischen Beitrag dazu geleistet hat, was als »Bildung« und was als »Bildung im Prozess« zu verstehen ist. Außerdem ist die empirische Bildungsforschung nur begrenzt bei dem angekommen, was für jede Didaktik fundamental ist: der Entwicklung von Konzeptionen für die Unterrichtsgestaltung. Wenn allgemeine Didaktik eine Handlungswissenschaft ist, muss sie sich auch dazu eignen, Orientierungen für die Gestaltung von (besserem) Unterricht hervorzubringen. Die stärker psychologisch ausgerichtete Lehr-Lern-Forschung kann deshalb die allgemeine Didaktik nur verdrängen, wenn sie auch diese normative Perspektive übernimmt. Derzeit gibt es aber nur wenige Hinweise darauf, dass die Vertreter der psychologischen Lehr-Lern-Forschung hierzu bereit wären.

Neben der Klarstellung bezüglich der Differenzen ist aber auch auf die Gemeinsamkeiten hinzuweisen. Beide Forschungsprogramme, die empirische Bildungsforschung/Lehr-Lern-Forschung und die Bildungsgangforschung, fordern einen empirischen Zugriff auf Schule und Unterricht unter Bezug auf Modellbildungen. Beide untersuchen Lehr- und Lernprozesse. Beide berücksichtigen die Fachspezifik und beide beziehen sich auf gemeinsame Theorien, auf Ansätze der Entwicklungspsychologie, Theorien des selbst gesteuerten Lernens, der Motivationspsychologie und zu subjektiven Theorien. Dies legt es nahe, zukünftig zu kooperieren, statt sich zu befehden oder zu ignorieren.

Man kann die Notwendigkeit einer zukünftigen Kooperation gut an zwei bezüglich der Institution Schule dominanten erziehungswissenschaftlichen Themen der Gegenwart festmachen: der Diskussion über Bildungsstandards und der Diskussion über die in der Schule notwendig werdende Differenzierung. Bildungsstandards und Differenzierung scheinen sich zunächst einmal zu: Standards zielen auf Homogenisierung, Differenzierung stellt Heterogenität in den Mittelpunkt. Für die Verbesserung des Unterrichts müssen sie aber in einem dialektischen Denkprozess aufeinander bezogen werden. Hier kann die Bildungsgangforschung einen produktiven Beitrag für die empirische Bildungsforschung liefern, und der Grund dafür ist verblüffend einfach, dann aber auch wieder schwierig: Die quantitativ-empirische Bildungsforschung tut sich schwer mit dialektischen Strukturen, der Unterrichtsprozess ist nun aber dialektischer Natur, weil sich die Schüler und die Lehrer, wie es Lothar Klingberg formuliert hat, gleichzeitig in einer Subjekt- und Objekt-Position befinden. Es ist die Aufgabe der Lehrer, den Lernprozess ihrer Schüler anzuleiten, obwohl Lernen immer Selbsttätigkeit ist (vgl. Klingberg 1987).

Wir praktizieren ein fallrekonstruktives Vorgehen statt Ursache-Wirkungszusammenhänge zu erforschen, und dies macht es möglich, auch die Spezifik der Bildungsgangdidaktik als einer Allgemeinen Didaktik zu kennzeichnen:

  1. Wir legen den Fokus auf Entwicklungsaufgaben und Sinnkonstruktionen, weil wir sagen, dass die Sinnkonstruktionen, die die Schüler und Lehrer mit dem Unterricht verbinden, zu ihrem Teil Aufschluss darüber geben, wie wirksam der Unterricht ist.
  2. Wir gehen davon aus, dass pädagogische Prozesse jeweils singulär und durch Kontingenz bestimmt sind.
  3. Wir streben eine Erhöhung der Reflexionskompetenz der Akteure in der Schule und der Forscher, die die Schule untersuchen, an und verstehen deshalb die Bildungsgangsdidaktik als »Reflexive Bildungsforschung« im Sinne von Blömeke (2009, S. 16).
  4. Wir bemühen uns darum, die empirische, die biografische (entwicklungsorientierte) und die normative Dimension des Lehr-Lerngeschehens aufeinander zu beziehen (vgl. Terhart 2005, S. 11, Terhart 2009). Aus unserer Sicht ist jeder erziehungswissenschaftlicher Ansatz, der nicht auch die normative Dimension des Aufwachsens und Lernens von Schülern in der Schule thematisiert, defizitär.

V. Perspektiven der Bildungsgangforschung

Es leuchtet ein, dass eine Forschergruppe, die über »work in progress« berichtet und die sich in der Entwicklung befindet, mit Aufgaben konfrontiert wird, die nur sukzessive bearbeitet werden können bzw. sukzessive bearbeitet werden müssen. Zu diesen anstehenden Arbeiten gehören:

  1. die Fortführung der empirischen Ausrichtung der Didaktik unter Verbindung allgemein- und fachdidaktischer Perspektiven,
  2. die Schärfung des theoretischen Profils, was eine Unterrichtstheorie erforderlich macht, in der der Lernerbiografie und dem Bildungsgang eine besondere Bedeutung zukommt und in der zugleich erklärt wird, in welcher Art und Weise Sinnkonstruktionen den Unterrichtsprozess bestimmen,
  3. eine präzisere Bestimmung des Verhältnisses der Bildungsgangforschung als einer empirischen Didaktik zur Bildungsgangdidaktik als einer Handlungswissenschaft (vgl. Gruschka 2009, S. 104),
  4. die Entfaltung eines kritischen Potenzials für die Entwicklung der Allgemeinen Didaktik (H. Blankertz 1973, M.A. Meyer 2008) und der Lehr-Lern-Forschung,
  5. die Bereicherung der internationalen Forschung durch die Bildungsgangforschung und die Einbindung internationaler Erkenntnisse in die Bildungsgangforschung und -didaktik.

Literatur

Hinweis: Die in der Bibliographie (vgl.: www.ham.nw.schule.de/pub/bscw.cgi/2273610/Bildungsgangforschung_didaktik.bib) bereits aufgeführte Literatur wird hier nicht erneut wiedergegeben.

© Redaktion rhino didactics