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urn:nbn:de:0043-rhinodidactics-34-4 – Ausgabe 34 vom 1. Dezember 2010 (als PDF)

31. Dezember 2010

»Fehlt da was?«

Von der Heiligkeit des Lernens zur Standardisierung des Humankapitals

Christian F. Görlich

Mein Vorhaben

In der hier vorgelegten Skizze gehe ich von der berufsbiografisch geprägten Erfahrung einer Differenz aus. Zum einem sind da meine Wahrnehmungen in der Schule und der Lehrerbildung, in denen das Lernen zunehmend entindividualisiert, funktionalisiert und standardisiert organisiert wird. Zum anderen erzählt mir die Literatur von einer göttlichen Verehrung des Lernens in anderen Kulturen. Eine solche Differenzerfahrung lässt Fragen aufkommen – in einem breiten Spektrum und auf verschiedenen Ebenen. Entscheidend für ihre Beantwortung dürfte eine weitere Klärung unseres Verständnisses von Aufklärung, Religion und Säkularisierung sein.

In den öffentlichen Diskussionen zeichnet sich in den letzten Jahrzehnten bei diesem Thema offensichtlich einen Wandel ab, den ich an den veränderten Argumentationen von Jürgen Habermas kurz nachzuzeichnen versuche. Die Säkularisierung ist offensichtlich nicht in der erwarteten Radikalität eingetreten. Dabei ist allerdings das Ringen um eine angemessene Beschreibung von Religiosität und Religionen in der Gegenwart durchaus als offener Prozess anzusehen. Sicher scheint nur zu sein: Es wird keine einfache »Rückkehr der Götter« geben (vgl. Pollack 2009). Zugleich hat sich – in Anlehnung an eine Formulierung von Habermas – das Gefühl festgesetzt, »dass da etwas fehlt«. Damit ist auch die Allgemeine Didaktik herausgefordert. In der Ausdrucksweise der Bildungsgangdidaktik möchte ich die Fragestellung voran treiben, ob die Vermittlung von Religiosität, hier verstanden als ein subjektives Bedürfnis, und von Religionen als kulturellen (faktischen und normativen) Gegebenheiten sich als Entwicklungsaufgabe konzipieren lässt, die ontogentisch auf das Individuum und phylogentisch auf die Kultur zielt.

Es kann in diesem Zusammenhang nicht schaden, noch einmal zu unterstreichen, dass es sich bei all diesen Überlegungen nicht um nur theoretische Diskurse handelt, sondern dass hinter der Reflexion das ernsthafte Bemühen und die Hoffnung stehen, Verletzungen zu mindern, wie sie auch beim Lernen und in der Schule, wie sie nun heute einmal ist, zu finden sind. Das, was da als fehlend angemahnt wird, könnte vielleicht in einer Kultur der Sensibilität für den Anderen – wie sie von Dölle-Oelmüller entworfen wurde (1997) – gefunden werden und auf die Ebene praktischen pädagogischen Handelns herunter gebrochen werden.

Persönlicher Vorbehalt

Das Thema Religiosität und Religionen unterliegt hinsichtlich seiner Aktualität gewissen konjunkturellen Schwankungen, die zu zwei knappen Vorbemerkungen nötigen. Gianni Vattimo hat in einer sehr persönlichen und deshalb anrührenden Schrift darauf hingewiesen, dass niemand in unserer abendländischen Kultur – und vielleicht in jeder Kultur – bei der Frage des religiösen Glaubens bei Null anfängt (Vattimo 1997, S.8). Jedoch die Erfahrungen auf frühen Stufen religiöser Sozialisation geraten im Verlaufe eines tätigen Lebens häufig in »Vergessenheit« und wenn sie nach Jahrzehnten erneut als Fragen in das Bewusstsein drängen, so neigt die Umwelt – auch die engere familiäre – schnell dazu, diesen Umstand der Physiologie des Alters geschuldet zu wissen, ja fast sogar entschuldigen zu müssen. Man wird sich – so Vattimo (a.a.O. S.10) – aber dafür nicht schämen müssen; vielleicht könnte man es sogar als eine Entwicklungsaufgabe des Alters ansehen, sich verstärkt mit der Sterblichkeit auseinander zu setzen.

Die Wiederkehr der Religionen und des Problems des Glaubens findet sich nicht nur in individuellen Biografien, der Prozess lässt sich auch geschichtlich verorten. Vattimos These bliebe deshalb zu diskutieren, dass die Wiederkehr der Religionen zum jetzigen Zeitpunkt daran gebunden sei, dass sich den heutigen Menschen jüngst eine große Zahl enormer und mit den Mitteln der Vernunft und der Technik offensichtlich nicht lösbarer Probleme gestellt habe.
In diesem Sinne möchte ich auch die folgenden Ausführungen, wenn ich sie auf das Lernen in der Schule beziehe, als einen Reflex auf eine Dauerkrise unserer Bildungsinstitutionen verstanden wissen.

Lernen im Kontext hinduistischer Rituale – ein Beispiel als Denkanstoß

Als Freund von Büchern habe ich das Glück, von meinen Freunden des Öfteren mit Lektüren beschenkt zu werden, denen neben der Unterhaltung auch ein gewisser Bildungseffekt nicht abzusprechen ist. Dazu gehörte der Roman von Martin Sutor: »Der Koch« (Zürich 2010). Sutor war mir bereits durch die frühere Lektüre von »Die dunkle Seite des Mondes« bestens in Erinnerung.
In seinem neuen Roman »Der Koch« handelt es sich um die Geschichte eines tamilischen Exilanten, der durch seine besondere, aphrodisierende Kochkunst eine Marktlücke entdeckt und damit nicht nur das Erfahrungsspektrum zahlungsbereiter Kunden erweitert, sondern auch Schweizer Eigentümlichkeiten und das Geschäftsgebaren international agierender Waffenschieber darlegt und anprangert. Um es kurz zu machen: weder die Kunst des Kochens noch die Kunst des Liebens erzeugten bei mir das Gefühl, ein lesenswertes Buch vor mir zu haben. Vielmehr waren es kleine fast in sich geschlossene Szenen, die das Leben tamilischer Exilanten in der Schweiz darstellten. So lernt der tamilische Koch in der Exilgemeinde nicht nur eine liebenswerte junge Frau mit vergleichbarem Migrationshintergrund kennen, vielmehr erinnert Sutor in diesem Zusammenhang auch an kulturelle und religiöse Rituale des Herkunftslandes. Dazu ein Zitat zu einer nur vordergründig peripheren Szene:

In diesen Tagen feierten die Hindus Navarathiri, den Kampf des Guten gegen das Böse.

Als sich die Götter einmal hilflos fühlten gegen die Mächte des Bösen, trennten sie sich alle von einem Teil ihrer göttlichen Kraft und formten daraus eine neue Göttin, Kali. In einem schrecklichen Kampf, der neun Tage und Nächte dauerte, besiegte sie den Dämon Mahishasura.

Wenn sich dieser Kampf jährt, beten die Hindus neun Tage lang zu Saraswati, der Göttin des Lernens, zu Lakshmi, der Göttin des Reichtums, und zu Kali, der Göttin der Macht.

Offensichtlich ist den Tamilen und im weiteren den Hindus das Lernen so wichtig, dass dafür im Himmel und auf Erden eine eigene Göttin zuständig ist.

Weitere Recherchen in Wikipedia ergab folgende Information (de.wikipedia.org/wiki/Vasant_Panchami – Stand: 29.10.2010) – mit dem bei dieser Quelle grundsätzlich angebrachten Vorbehalt:

Ganz besonders Künstler und geistig Arbeitende wenden sich an diesem wichtigen Feiertag an Saraswati: Schüler, Studenten und Lehrende ebenso wie Musiker, Maler, Autoren und Journalisten. Sie legen ihre Utensilien der Patronin zu Füßen – Bücher, Hefte, Stifte und Pinsel – und bitten um ihren besonderen Segen. Besonders in Bengalen ist es Sitte, dass kleine Kinder an diesem Tag das erste Mal in ihrem Leben einen Buchstaben schreiben. Andere schreiben mit „weißer Tinte“ (Milch) Segenssprüche oder ein Om in ihre Bücher.

Schüler und Studenten verehren die Göttin aber nicht nur zuhause auf dem Altar. In Schulen und Universitäten baut man jedes Jahr gemeinsam kleine oder große Altäre auf. Nicht selten formt man einen Berg und dekoriert diesen mit weißen Wattebäuschchen als Schnee, denn die Göttin soll aus den schneebedeckten Bergen des Himalaya kommen. Sehr häufig bauen junge Männer und Burschen auch verschiedene Variationen von Schiffen für Saraswati, mit denen sie nach der Überlieferung ihre Gläubigen besucht. Dann zelebriert der herbeigerufene Priester im Namen aller einen Gottesdienst, dem ein fröhliches Fest mit Musik, Tanz und gemeinsamem Essen folgt. Zu diesem lädt man meist auch jene Mitschüler und Studenten ein, die nicht Hindus sind.

Im Osten Indiens ist die Begeisterung für die Göttin besonders groß. Viele Haushalte stellen Statuen oder Bildnisse auf, rufen einen Priester oder führen selbst ihre Zeremonien durch. Auch Vereine, Nachbarschaftsgemeinschaften oder andere Gruppierungen bauen gemeinsam kleine und große Verehrungsplätze in den Höfen und Straßen, oft muss sogar der Straßenverkehr dafür umgeleitet werden. Nach den religiösen Riten sitzen die Leute am Abend vor der Bühne mit der Göttin und nehmen an kulturellen Veranstaltungen mit Musik und Tanz teil.

Am zweiten Tag verabschiedet man die Göttin rituell, trägt die nun leblose Skulptur in Prozessionen unter Jubel und lauter Musik zum Fluss – wo sie in den Fluten versinkt.

Dieses Zitat aus Wikipedia müsste wohl mit religionswissenschaftlicher Kompetenz kommentiert und gewichtet werden. Ich möchte hingegen das beschriebene Ritual (fast im Sinne einer klassischen Unterrichtsvorbereitung) zum Anlass nehmen, Fragen zum Verständnis des Lernens in unserem Kulturkreis zu entwickeln. Dabei greife ich auf gegenwärtige religionsphilosophische Überlegungen zurück (Wendel 2010).

Frageansätze

Für die Bearbeitung der oben aufgeworfenen Fragen wird eine (didaktische) Reduktion und Gewichtung nötig sein. Mit Blick auf potentielle Adressaten – etwa junge Kollegen in der Lehrerausbildung –, aber auch wegen einer offen eingestandenen persönlichen Faszination möchte ich zunächst versuchen, mich gleichsam exemplarisch über Veränderungen der Argumentation von Habermas (1981, 2008) dem heutigem Diskussionsstand über Aufklärung, Religionen und Säkularisierung zu nähern.

Nachmetaphysisches Denken auf Ressourcensuche

Gott ist im Verlauf der Philosophiegeschichte schon wiederholt für tot erklärt worden, und Friedrich Nietzsches Diktum ist wohl nur das wirkmächtigste Bild. Verwunderlich bleibt, wie wenig sich mit einer solch theatralischen Verabschiedung der Transzendenz – wie der durch Nietzsche – auch das Thema Religion erledigt zu haben scheint.

Augenfällig lässt sich die Herausbildung einer neuen Gesprächsbereitschaft zwischen Philosophie und Theologie an der Person von Jürgen Habermas festmachen. In der Literatur finden sich zu dieser Entwicklung mittlerweile Phasenmodelle (Thomalla 2/2009), über deren innere Stimmigkeit später eimal die Habermas-Philologie befinden möge. Ich greife hier nur auf relativ frühe Äußerungen und den vorläufigen Endpunkt zurück:

Habermas spricht noch 1981 in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« davon (Habermas 1981, Bd. 2, Seite 118f), dass die sozial integrativen und expressiven Funktionen, wie sie zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, auf das kommunikative Handeln übergehen,

wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird. Das bedeutet eine Freisetzung des kommunikativen Handelns von sakral geschützten normativen Kontexten. Die Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich auf dem Wege einer Versprachlichtung des rituell gesicherten normativen Grundeinverständnisses; und damit geht die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials einher. Die Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindenden Kraft kritisiertbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglich.

Später sollte diese anfängliche Einstellung ironisch als der Versuch einer feindlichen Übernahme der Religion durch die Philosophie charakterisiert werden. Jedoch schon in dieser frühen 80ziger Jahren gibt es auch Vorbehalte hinsichtlich der Möglichkeit eines völligen Verzichts auf Religion, und in der Folgezeit mehren sich die Zweifel, dass die Philosophie in ihrer nachmetaphysischen Gestalt die Religion verdrängen beziehungsweise ersetzen kann. Die Philosophie ist angesichts der sich entwickelnden Herausforderungen offensichtlich überfordert.

Das durch die Säkularisierung und durch die zunehmend formale Organisation von Handlungssystemen entstandene Sinnvakuum wird, wie ich meine, durch die Sprache des Marktes und/oder auch durch die Rhetorik einer »Vermessung des Lernens« mit einem damit verbundenen Machbarkeitswahn schnell gefüllt. In dieser Situation sieht sich deshalb die Philosophie auf Bundesgenossen angewiesen, was ist nicht in dem Sinne zu zu verstehen ist, dass hier der Religion eine neue Macht zuwächst. Eher handelt es sich um eine Sensibilisierung des säkularen Staates und der Öffentlichkeit für die Artikulationskraft der Religionen und die Impulse, die aus religiösen Gemeinschaften kommen.

Den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung des Denkens von Habermas stellt nach meiner Überzeugung sein 2007 in der Neuen Züricher Zeitung erschienener Artikel dar »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defätismus der modernen Vernunft« (Neue Züricher Zeitung vom 10. Februar 2007). Ausgangspunkt dieses viel beachteten und diskutierten Textes ist ein »paradoxes Ereignis«: die Beerdigung des Agnostikers Max Frisch am 9. April 1991 in der Stiftskirche Sankt Peter in Zürich. Max Frisch habe durch Vorwegbestimmung dieses Ortes die Peinlichkeit nicht religiöser Gestaltungsformen von Beerdigungen dokumentiert, »dass die aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent für eine religiöse Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschließenden rite de passage gefunden hat« (Habermas in Reder, Schmidt Hrsg., 2008, S. 26).

Habermas will keinen schwiemeligen Kompromiss zwischen Unvereinbarem.

Wir dürfen uns um die Alternative zwischen anthropozentrischer Blickrichtung und dem Blick aus der Ferne des theo- oder kosmozentrischen Denkens nicht herum drücken. Aber es macht einen Unterschied, ob man miteinander spricht oder nur über einander. Dafür müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: die religiöse Seite muss die Autorität der natürlichen Vernunft als die fehlbaren Ergebnisse der institutionalisierten Wissenschaften und die Grundsätze eines universalistischen Egalitarismus in Recht und Moral anerkennen. Umgekehrt darf sich die säkulare Vernunft nicht zum Richter über Glaubenswahrheiten aufwerfen, auch wenn sie im Ergebnis nur das, was sie in ihre eigenen, im Prinzip allgemeinen zugänglichen Diskurse übersetzen kann, als vernünftig akzeptiert (a.a.O. S. 28).

Vernunft und Religion haben nach Habermas einen gemeinsamen Ursprung; sie sind komplementäre Gestalten des Geistes.

Indem ich von komplementären Gestalten des Geistes spreche, wende ich mich gegen zwei Positionen – einerseits gegen die bornierte, über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung, die der Religion jeden vernünftigen Gehalt abstreitet, aber auch gegen Hegel, für den die Religion sehr wohl eine erinnerungswürdige Gestalt des Geistes darstellt, aber nur in der Art eines der Philosophie untergeordneten vorstellenden Denkens […] Die Säkularisierung hat weniger die Funktion eines Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als die eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt (Habermas S. 29f).

Das Motiv von Habermas, sich in diesem Thema so zu positionieren, ist der Wunsch Kräfte gegen den Vernunftdefätismus der Gegenwart zu mobilisieren. Eines besonderen Rückhalts bedarf dabei die praktische Vernunft: »[…] der Entschluss zum solidarischen Handeln im Anblick von Gefahren, die nur durch kollektive Anstrengung gebannt werden können, ist nicht nur eine Frage der Einsicht […]«. Die praktische Vernunft verfehle ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft habe, »in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten« (Habermas S. 30f).

Wie hier altes utopisches Denken global eine Renaissance erlebt, sei durch einen kurzen Bezug auf Rorty angedeutet:

Mein Gefühl für das Heilige, soweit ich eines habe, ist an die Hoffnung geknüpft, dass eines Tages, vielleicht schon in diesem oder im nächsten Jahrtausend, meine fernen Nachfahren in einer globalen Zivilisation leben werden, in der Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist. In einer solchen Gesellschaft wäre die Kommunikation herrschaftsfrei, Klassen und Kasten wären unbekannt, Hierarchien zweckmäßige Einrichtungen auf Zeit, und Macht läge allein in der Verfügungsgewalt einer frei übereinkommenden, belesen und gebildeten [sic!] Wählerschaft
(Rorty in Rorty/Vattimo 2006 S. 47).

Wenn diese Beschreibung der geistigen Situation der Gegenwart durch Habermas und andere Akzeptanz findet, so sehe ich hier auch die Allgemeine Didaktik gefordert. Meinert A. Meyer hat mich in Diskussionen wiederholt darauf hingewiesen, dass Wolfgang Klafki die Forderung nach einer reflexiven Religiosität zumindest explizit nicht in den Katalog seiner epochaltypischen und prinzipiell universalisierbaren Schlüsselprobleme aufgenommen hat. Ein Desiderat? Meinert A. Meyer bezieht sich bei diesem Hinweis auf eigene Erfahrungen in Malaysia, wo Religiosität und Religion ein Schlüsselproblem seien. Wenn weiter die Differenzierung zwischen Religiösität als subjektiven Faktor und den Religionen als kulturellen Fakten Zustimmung findet (vgl. Wendel 2010 S. 26), wäre dann nicht konsequenterweise die Gestaltung dieses potentiellen Spannungsverhältnisses als Entwicklungsaufgabe zu konzeptionalislieren und damit auch erziehungswissenschaftlicher Forschung zugänglich zu machen?

Hilfskonstruktionen bei der Behandlung des von Habermas auf die Tagesordnung gestellten Themas könnten Teilfragen sein:

Vgl. hierzu auch Brieskorn in: Reder, Schmidt Hrsg., 2008, S. 37

Ausblicke auf ein Leben mit Anderen

Ruth Dölle-Oelmüller hat sich 1997 in einem – in seinem theoretischen und praktischen Anspruch auch heute noch lesenswerten – Aufsatz mit dem »Unbehagen an der Schule« auseinandergesetzt. Ihr Ausgangspunkt sind Verletzungen, denen sich Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sehen:

Die Beispielliste ist von einer beklemmenden Aktualität und müsste heute noch fortgeschrieben werden.

Dölle-Oelmüller nennt einige (typische) Reaktionen auf solche Verletzungen, die sie selbst mit guten Gründen für wenig tragfähig hält:

Die Skepsis, die Dölle-Oelmüller gegenüber solchen Rezepten geäußert hat, ist nicht ohne Emotionen und kritiklos hingenommen worden, und man kann wohl davon ausgehen, dass die Kritiker bis heute nicht verstummt sind.

Zielführend hingegen hält Dölle-Oelmüller

Vor diesem Hintergrund ist die indirekte Ausgangsfrage der Überschrift vielleicht neu zu formulieren: inwieweit könnte ein zeitgemäßer religiöser Blick – im Sinne eines nachmetaphysischen Denkens – auf Lernen und Schule sinnstiftend wirken und die sicher notwendige empirische Vermessung von Lernen und Schule ergänzen?

Zusammenfassend fällt es mir leichter, Szenarien zu benennen, die nicht angestrebt werden sollten:

Zum einen sollte es keine feindliche Übernahme des Religionsunterricht durch säkularisierte Unterrichtsfächer geben, etwa nach dem Motto:
Streitschlichter-Kurs statt Religionsstunde

.

Umgekehrt sollten die Einflussmöglichkeiten nicht-reflexiver Religionen nicht dadurch erweitert werden, dass sie als weitere Schulfächer eingeführt werden.Damit ist natürlich auch ein entsprechender Aufklärungsanspruch an die bereits etablierten Fächer verbunden.

Was bleibt, ist die Aufgabe, die Ressourcen der Sinnstiftung wieder zu gewinnen, die in den Religionen schlummern. Beispiele finden sich in den aktuellen Diskussionen um die Bio-Ethik. Es wird eine wie immer auch geartete institutionelle Absicherung dieser Potentiale zu erfinden sein – zu organisieren als wie auch immer benanntes Schulfach oder als fächerübergreifendes Prinzip. Ich persönlich habe in der Lehrerausbildung versucht, auf eine Kultivierung der Sensibilität im Sinne von Dölle-Oelmüller zu setzen. Dabei war mir die Orientierung an der Wissenschaftspropädeutik als fachübergreifendes Prinzip hilfreich.

Es sei abschließend erlaubt, an meinen Griechischlehrer K. zu erinnern, der uns heranwachsende Jungen vor über 50 Jahren mittels des Chorliedes aus der »Antigone« von Sophokles nicht nur Griechisch lehrte, sondern auch das Gefühl der Griechen für Heiligkeit der Erde vermittelte. Wenn er uns die Verse rezitieren und dabei mit dem Versmaß angemessenen Schritten durch die Klasse schreiten ließ, schienen wir das Ritzen, die Verletzung der heiligen Erde, der Mutter Natur, durch das Ungeheuer Mensch fast physisch am eigenen Körper zu spüren. Dieses frühe Beispiel einer Werte konservierende Erziehung, diese Sublimierung des ungeheuerlichen Gedankens der Gotteslästerung in das Denken einer schützenswerten Umwelt, bedurfte noch keiner Orientierung an Standards und Kompetenzen.

 
Ungeheuer ist viel und nichts
Ungeheuerer als der Mensch.
[…]
Erde, der Götter höchste,
Die unerschöpfliche, unermüdlich,
Bedrängt sein Pflug. Auf und ab
Ackern die Rosse ihm
Jahr um Jahr.

Sophokles, Antigone Verse 933 ff.

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