Meinert Meyer: Ich möchte in Anlehnung an eine deutsche Fernsehreihe einige Bilder zeigen und bitte um eine kurze, gern auch assoziative Antwort. Mein erstes Bild zeigt das Titelblatt der »Didacta Opera Omnia« des Comenius, wie es ja auch hier bei Euch in der Bibliothek an der Wand hängt.
Hans van der Linde: Dieses Bild aus der Zeit von Comenius repräsentiert für mich die Suche, wie alles, Schöpfung, Kunst, Arbeit, Kirche…, zusammenhängt. Wir haben übrigens ein Original des Buches, aus dem das Bild stammt, in unserer Ausstellung.
– Staunende Bewunderung der Interviewpartner –
Meinert Meyer: Nächstes Bild: Teil III der »Didacta Opera Omnia«, getitelt: »Didacticorum operum« mit einem Emblem!
Hans van der Linde: Das Bild erinnert an den Auftrag des Menschen. Wenn ich es richtig verstehe, zeigt er den Leuten den Weg zurück zum Ursprung, wie Gott das gemeint hat.
Ergänzung von Meinert: Das Ziel für diesen Weg ist die Emandatio catholica rerum humanarum, wie Comenius das in seinem Hauptwerk nennt, die allgemeine oder allumfassende (»katholische«) Verbesserung der Dinge.
Hans van der Linde: Ich weiß es von meinem Vater, Professor der Theologie. Er hat gesagt – nun in meinen Wörtern –: Gott hat alles gut gemacht, der Mensch hat es verprügelt.
Aber der Mensch hat auch die Möglichkeit, weil er Gott ähnlich ist, alles wieder zum Guten zu wenden. Deswegen gibt das Denken von Comenius den Leuten eine Richtung, es fordert auf, das Gute zu tun. Es gibt Möglichkeiten in der Erziehung, aber auch in dem gemeinsamen Überlegen, etwa in den Vereinten Nationen, der UNESCO, dem Weltrat der Kirchen. Am besten sollte man miteinander reden, statt zu streiten.
Meinert Meyer mit Bezug auf das Emblem: Alles fließe von selbst, Gewalt sei fern von den Dingen.
Hans van der Linde: Das ist der Grundsatz der Erziehung. Wenn etwas in einem Kind ist, kommt es heraus, wenn man es nicht zwingt, sondern mithilft, sich selber zu entwickeln.
Christian Görlich: In der großen Didaktik heißt es auch: »Das Wasser läuft von alleine den Berg hinab«.
Hans van der Linde: Und noch ein Vergleich mit der Natur, den ich bemerkenswert finde: So, wie die Sonne uns alle wärmt, so soll der Lehrer auch ein Lehrer für alle Kinder sein.
Meinert Meyer: Ich komme zu meinem dritten Bild: Rembrandts Bild eines alten Mannes, das aller Wahrscheinlichkeit nach Comenius zeigt.
Hans van der Linde: Wir haben eine Kopie dieses Bildes von Rembrandt in der Ausstellung. Auf Holländisch sagt man: »Wir haben es auf dem Marktplatz gefunden – bei eBay«. Jedoch ist es eine Kopie des Originals von Rembrandt. Das Original befindet sich in den Uffizien in Florenz. Wenn man den Kopf ansieht, ist das Bild richtig gut gemacht, wenn man auf die Hände guckt, ist es sehr merkwürdig. Irgendetwas stimmt hier nicht – auch nicht im Original.
Meinert Meyer: Nun die Titelseite von »Orbis sensualium pictus«, der Darstellung der sinnlich wahrnehmbaren Welt!
Hans van der Linde: Dieses Titelblatt und das Buch können als Ursprung aller heutigen Schulbücher gelten. Es ist richtig genial gedacht, dass man die Tiere sieht, die Lärmmacher, dass man das Bild und Lärm symbolisch kombiniert, auch ganz praktisch, wie man das phonetisch mit kleinen Buchstaben schreibt. Wir haben zwei Postkarten davon gemacht. Jeder der hier das Museum kommt, soll das erwerben können.
Meinert Meyer: Imposant finde ich die Seite 308 des Orbis, die sogenannte »clausula«, also das Abschlussbild.
Hans van der Linde: Dieses Bild zeigt kein isoliertes Kind, sondern ein Kind mit einem alten Mann, einer Sonne, Wolken, einer Stadt, kurz ein Kind in einer Umwelt. In English: Every picture tells a story. Dieses Bild ist eine Erzählung, eine Erläuterung, und dies in zwei Sprachen. Ich habe mitgearbeitet in einem Methodenseminar für den Geschichtsunterricht in Holland. Wir waren zusammen sehr stolz darauf, ein System entwickelt zu haben: Zeichnungen mit Nummern, so dass wir die Kinder in ihrem Lernprozess leiten können, sie können sehen, was unter den Nummern zu lesen ist, um dann anschließend Aufgaben zu lösen. Ich war ganz erstaunt, diese Parallelen zu sehen.
Meinert Meyer: Nächste Bilder: Die Darstellung der Schule im Orbis, S. 198 und 199.
Man sieht die Kinder beim Lernen und links den Lehrer mit einem Kind vor ihm. Was mich aber bei diesem Bild irritiert, ist, dass hier die altertümliche Art von Schulehalten abgebildet wird, die Comenius ja gerade kritisiert. Das ist nicht der damals revolutionäre Frontalunterricht, wie Comenius ihn in der Großen Didaktik propagiert, dass die Stimme des Lehrers in die Schüler eindringen, von ihnen aufgesogen werden solle. Was wir hier sehen, ist vielmehr das alte Bild, wo die Schüler für sich auswendig lernen, und dann, wenn sie gelernt haben, vom Lehrer abgefragt werden.
Interessant finde ich den Begleittext. »Schola est officina«. Hier wird ein Hinweis auf die neue Didaktik gegeben. Die Officina war eigentlich die Buchdruckerwerkstatt. Comenius vergleicht in der großen Didaktik das Unterrichten mit dem Buchdrucken. Dein Kommentar dazu?
Hans van der Linde: Deine Differenzierungen sind ganz richtig, aber aus der Perspektive heutiger Einsichten formuliert, wo wir von Entwicklung statt von Prägung sprechen und diese Akzente unterscheiden. Bei Comenius gab es diese Unterscheidung so noch nicht.
Meinert Meyer: Aber wie kommt das Fremde, dass die Kinder nicht schon selbst wissen, in ihre Köpfe?
Hans van der Linde: Ich denke, dass die Technik des Lesens eine Fertigkeit ist, die vieles möglich macht, weil man auch die eine und dieselbe Botschaft mehreren zu lesen geben kann. Das hat für Comenius vor allem aus theologischer Sicht eine Rolle gespielt. Es gibt eigentlich nur ein Buch und das ist die Bibel. Die Leute sollen lernen, die Bibel zu lesen.
Meinert Meyer: Comenius vergleicht auf vielfache Weise den Lehrer. Der Lehrer sei wie die Sonne, der Lehrer sei wie der Gärtner. Er sagt aber auch, das Lehren sei wie Bücher drucken.
Hans van der Linde: Er hat auch gesagt, dass Studenten sich selber zu Experten von Büchern machen sollen, damit sie ihre eigene Bibliothek zusammen stellen können. Deshalb ist es wichtig, dass man mit Büchern arbeiten kann. Denn dort findet sich die Kenntnis vieler Sachen, die man je nach der Frage, die man hat, auswählen kann. Dadurch kann man sein eigenes Denken entwickeln.
Meinert Meyer: In der Einleitung von »Orbis sensualium pictus« sagt Comenius, dass die Kinder, die noch nicht lesen können, sich doch die Bilder anschauen und bunt anmalen sollten. Und da sieht man wieder, wie Comenius didaktisch gedacht hat: Wie fängt das Lernen an? Mit einer positiven Einstimmung auf die Bilderbücher!
Hans van der Linde: Wir haben in der Ausstellung auch eine Ausgabe von Orbis sensualium pictus liegen. Man guckt, man fühlt, man schmeckt. Comenius hat gesagt: »Alles was im Kopf ist, ist über die Sinne gekommen.« Da kann man gucken, kolorieren, schreiben, hören.
Meinert Meyer: Das Zitat ist ein irrer Satz. Den hat Comenius von Francis Bacon übernommen, der seinerzeit ein moderner Wissenschaftstheoretiker war: »Nihil est in intellektu, nisi antea fuerit in sensu/Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist«
Die Interviewpartner blättern im Orbis.
Bezugsbild nicht in meinen Unterlagen, es wurde erst während des Interviews erblättert.Meinert Meyer: Wo ist die »Inventatio«? Die »Inventatio« finde ich so imposant, weil sie eine andere didaktische Denkungsart demonstriert, als wir sie heute sehen. Bei Comenius ist der Magister der Aktive. Der Lehrer kommt und sagt: »Knabe, lerne Weisheit!«. Heute betonen wir demgegenüber viel stärker die Selbstregulation des Lernens. Für Comenius ist wesentlich, dass das Kind die Bibelbotschaft bekommt. Von alleine kommt es nicht dazu.
Hans van der Linde: Wenn man im Orbis weiter schaut, dann kommt abschließend wieder Gott. Gott ist der erste und der letzte Punkt. Deswegen ist Comenius auch ein Theologe. Es begann mit Gott und endet mit dem letzten Gericht. Dazwischen ist das Leben auf Erden und die Vorbereitung auf das Leben danach.
Meinert: Das ist halt Theologie
Christian Görlich: Comenius muss heute außerhalb der Fachwelt als weitgehend unbekannt gelten. Einige Schulen kennen vielleicht das nach ihm benannte Europaprogramm. Ich bin persönlich bin nach neuerlicher Lektüre von der Figur und Biografie des Comenius ich so fasziniert, dass ich mir die Frage stelle, ob man in der Figur des Comenius mit Blick auf seine Migrationsgeschichte nicht auch eine Leitfigur für europäisches Denken sehen bzw. wieder gewinnen könnte.
Hans van der Linde: Es gibt Leute, die in Comenius auch den Europäern, wenn nicht den Über-Europäer sehen. Als Historiker meine ich, man sollte schauen, wie die Verhältnisse in seiner Zeit waren. Ich denke, was wir jetzt mit nationalen und kulturellen Unterschieden haben – das war in der Zeit von Comenius nicht so stark. Es war selbstverständlich, dass Wissenschaftler miteinander korrespondierten. Es hat keine oder weniger starke nationale und politische Grenzen gegeben. Wichtiger aber ist – das kann aber auch eine Projektion sein –, dass Comenius weniger politisch gedacht hat. Comenius denkt im theologischen Rahmen über die nationalen Grenzen hinaus. Sein Idealbild war die ganze Welt, die gehorsam gegenüber Gott sein sollte. Diese Behauptung kann ich nicht belegen. Comenius hat aber irgendwo gesagt: »Wir sind alle Bürger einer ganzen Welt«. Aber Comenius hat auf seinem Lebensweg real erfahren, dass nationale Grenzen ein richtiges Problem darstellen können. Denn auf der einen Seite der Grenze kann man seine Religion frei leben, auf der anderen Seite wird man dafür ins Gefängnis geworfen. Comenius hat auch versucht, sich politisch zu manifestieren, mit Leuten zu reden, die Macht zu überreden: »Bringt uns die Freiheit!« Er war also auch politisch engagiert. Aber sein Ziel war ein anderes, nicht nur die Freiheit für das eigene Volk, seine Perspektive reichte weiter.
Christian Görlich: Heute besteht nach meiner Ansicht die Gefahr, dass Comenius in der Philologie versinkt. Die Leute legen seine Texte aus, aber das reicht nicht aus. Hat er aber vielleicht nicht doch das Potential, mit seinem visionären Grundideen Impulse zu geben, die auch unsere heutigen Jugendlichen noch anstecken könnten?
Hans van der Linde: Das denke ich schon. Comenius ist über 340 Jahre tot, aber noch immer redet man über ihn. Unsere demnächst geplante Konferenz gilt auch der Frage, wie man seine Gedanken auch noch für unsere Zeit nutzen kann. Comenius hat etwas in Worte gefasst und in das Denken von Menschen gebracht, was so anspruchsvoll ist, dass es über die Zeit in andere Kulturen hinein wirkt. Ich habe hier Leute aus Korea gesehen, genauso begeistert wie die Tschechen. Comenius hat etwas formuliert, was durch Zeit und Kulturen etwas Wesentliches vom Menschen berührt. Ihn faszinierten Fragen: Wie sieht die Welt aus? Wie sollen wir uns zueinander verhalten? Wie können wir die Welt verändern, um ein schönerer und ein friedlicher Platz zu sein. Aber auch solche: Was geschieht im Menschen, in seinem Kopf und in seinem Denken, oder in der Erziehung oder bei der Begegnung mit der Kunst. Das sind Fragen, auf die wir auch heute noch Antworten suchen.
Christian Görlich: Mir schwebt vor, Comenius für die Idee von Europa zu rehabilitieren, im Sinne eines klassischen Bezugstextes. »Klassischer Text« heißt dabei für mich, dass in einer Sprache, die uns heute vielleicht fremd geworden ist, ein Problem begriffen wird, das wir aber strukturell heute noch haben. Dieses Problem könnte strukturell darin gesehen werden, dass wir wie Comenius genötigt sind, einerseits in großen Zügen didaktisch zu denken, wie man die Menschheit erziehen kann, aber auch durchaus wissen, dass ich die Menschheit nur erziehen kann, wenn ich den Menschen als einzelnen erziehe und jedem einzelnen auch die Chance gebe, selbst diesen Erziehungsprozess für sich zu steuern. Das Ringen von Comenius, sein Changieren zwischen den Polen Allgemeinheit und Individualität, finde ich so faszinierend.
Hans van der Linde: Auf unseren kommenden Comenius-Tagen im März 2013 haben wir das Thema Europa gewählt. Da wollen wir über das europäische Problem nachdenken, dass Europa nicht nur als ein finanzielles Problem des Marktes, der Grenzen und der unterschiedlichen Kulturen sieht, sondern als ein Konzept für mehr Begegnung und Miteinander. Wir brauchen solche Konzepte, auch z.B. um entsprechende Unterrichtskonzepte und -formen abzuleiten, um vielleicht einen Weg aus der Krise zu finden und eine Umschaltung des Denkens erreichen zu können.
Christopher Görlich: Inwieweit hat Comenius wirklich europäisch gedacht? Oder ist das eine Sicht von uns heute, wenn wir von Comenius und Europa sprechen.
Hans van der Linde: Comenius hat sich selber eher als einen Weltbürger und nicht als einen Europäer gesehen. Letzteres ist eine kulturelle Projektion von uns. Denn wir haben Europa aufgefunden und gesagt: Diese Länder gehören zu Europa, diese nicht. Das ist unsere Party. Ich glaube, dass sich Comenius kaum als Europäer bezeichnet hätte.
Christian Görlich: Hier werde ich auf ein altes Problem von mir und hoffentlich auch anderen zurückverwiesen. Kommt es heute nicht mehr darauf an, die »Differenz« zu denken, als Gegenbewegung gegen alle diese Ganzheitssysteme, die wir ja auch ideologisch im vorigen Jahrhundert hatten. Mit Galtung würde ich sogar sagen: Europa sollte mit Blick auf das Leid, dass Europa in den letzten Jahrhunderten über die Welt gebracht hat, einmal eine Zeit lang ganz still sein.
Hans van der Linde: Meinen Sie, dass das Reden über Europa das Problem verhüllt?
Christian Görlich: Man muss sich einmal statistisch anschauen, welche Nationen heute weltweit die führenden Volkswirtschaften sind. Das waren für lange Zeit die europäischen. Hier findet im Moment ein enormer Wandel statt. Der Aufstieg von China und den so genannten Schwellenländern lässt z.B. mit Rückblick auf die Kolonialkriege Europa eher in düsterem Licht erscheinen – einbezogen auch die Verantwortlichkeit für den Genozid, den Europa vielfach über die Welt gebracht hat. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Anspruch, in Europa stellvertretend für die ganze Welt zu denken. Ich kann wohl regional für Europa denken, aber nicht mehr unbefangen für die ganze Welt.
Hans van der Linde: Eine solche Schwierigkeit sehe ich auch. Die Problematik ist nur schwierig ohne Projektionen auf Comenius zu beziehen. Wenn Comenius sagt: »Ich bin ein Weltbürger, so hat er sicher gewusst, dass es in Amerika Indianer gibt. Dabei unterstellt er – auch dies eine Projektion – Indianer sind die gleichen Menschen wie die Menschen in Europa. Comenius dachte Europa kaum als eine Entität abgrenzbar gegen den Rest der Welt. Comenius argumentierte theologisch. Vor Gott sind alle Menschen gleich.
Christian Görlich: Ich möchte unsere Diskussion noch einmal mit der Frage auf den Punkt bringen: Kann man das didaktische Bemühen so weit treiben, dass es gelte, eine Allgemeine Didaktik für alle Weltbürger zu entwickeln. Die Gegenposition würde lauten: Der Mensch wird nicht als Weltbürger geboren, er ist nicht als Weltbürger zu hause, er ist zunächst immer in der Region zu hause, und Schule muss immer zumindest gleichwertig von der Region her gedacht werden.
Hans van der Linde: Ich glaube nicht, dass der Mensch in solchen Differenzen leben kann. Jeder Mensch wird irgendwo geboren und hat eine Beziehung zu dem Stück Boden und zu den Leuten, wo und bei denen er lebt. Das ist sein Zuhause. Aber er ist auch in der Welt. Wenn die Weltbürger dies Stückchen Zuhause nicht von Anfang an haben, sind sehr einsam und vielleicht entwurzelt. Deshalb weiß ich auch nicht, ob der Mensch das eine oder andere mehr sein kann oder soll. Wir reden über Menschen. Menschen in China sind im Grunde - also wesentlich - nicht anders als Menschen in Holland, Deutschland oder anderswo. Da muss es etwas geben, was alle Menschen mehr oder weniger gleich macht. Deshalb sollte es möglich sein, eine Didaktik oder Unterrichtsformen zu entwickeln, die jeden Menschen ansprechen. Die Form, die Comenius entwickelt hat - anzuschauen, zu erfahren -, ob man das in China oder hier macht, das ist mehr oder weniger gleich. Das Konzept, zu lernen ein Weltbürger zu sein, das kann man auch in einer kleinen Dorfgemeinschaft realisieren. Das hat alles damit zu tun, wie man sich zu einem anderen verhält, wie viel Raum man einander gibt, wie weit man miteinander zu denken im Stande ist. Ich hoffe nicht, dass sie von mir eine letzte Antwort verlangen.
Christian Görlich: Es war vielleicht eine Zumutung, unsere internen Diskussionen im Zusammenhang mit der letzten Ausgabe der rhino didactics Nr. 36 über die Globalisierung an Sie heranzutragen und fortzuführen.
Meinert Meyer: Ich habe eine letzte Frage zur politischen Dimension von Comenius. Für mich ist die Entdeckung des Naturrechts der Menschen im 18. Jahrhundert, drei Generationen oder gut 100 Jahre nach Comenius, sehr wichtig. In Frankreich, in den britischen Kolonien, die heute das Kernland der Vereinigten Staaten darstellen, ist dafür gekämpft worden. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt es: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certan unalienable rights, that among these are life, liberty, and the pursuit of happiness.« Dass der Mensch ein Recht darauf hat, nach Glück zu streben, das ist doch ein Gedanke, der bei Comenius noch nicht zu finden ist?
Hans van der Linde: Comenius war zu sehr durch den Glauben an Gott gebunden, um solche Zielsetzungen den Menschen zuzugestehen. Vielleicht sehr vereinfachend formuliert hat nach Comenius Gott alles geschaffen. Wir haben die Möglichkeit zu entdecken, was Gott mit uns vorhat. Wir haben die Pflicht, die Welt zu restaurieren, wie sie anfangs sein sollte. Wenn diese Denkweise stimmt, ist sie nicht kompatibel zu einer Denkweise, bei der die Menschen der Welt selber Formen geben. Das ist eine gefühlte Folgerung, zu der Comenius führt, die er selber jedoch expressis verbis nicht gezogen hat. Wenn man die »Didacta magna« liest, fällt auf, dass Comenius sich in der Welt sehr gut umschaut, die Prozesse in der Natur sieht und diese auf Unterricht projiziert. Da gibt es auch Prozesse, die er selber nicht versteht. Aber er sieht, wie sie wirken. Dann kann man auch davon reden, dass der Mensch selber sich entwickelt und damit Zielen nach strebt. Dazu gehört auch: jeder Mensch möchte glücklich sein, genug Brot zu essen und Nahrung zu haben. Dass es auch Leute gibt, die den Menschen dazu nicht die Chance geben. In den Briefen an den Himmel hat er protestiert, dass die Bauern und die Leute das Eigentum von Adligen waren, dass diese Verhältnisse nicht so seien, wie Gott sie gemeint habe. Man soll sich nicht einander missbrauchen, ausbeuten. Aber ich weiß nicht, ob er die Konsequenz daraus gezogen hätte, dass jeder ein Recht auf Glück und Freiheit hat, bzw. ob dieser Anspruch ein Recht sein solle.
Meinert Meyer: Deutsche Pädagogen haben an Comenius kritisiert, dass er in seinen Büchern ein theologisches Weltbild entwirft, in dem für den einzelnen Menschen zwar die Aufforderung enthalten ist, Gott wohlgefällig zu leben, in dem aber über das Jüngste Gericht schon vorher bestimmt ist, worin das wohlgefällige Leben und damit das Ziel des Menschen zu bestehen hat. Die Argumentation solcher Kritiker ist, dass wir heute ein ateleologisches Weltbild haben. Ein teleologisches Weltbild ist eine Vorstellung von Welt, in der das Ziel feststeht; ein ateleologisches, in der dem nicht so ist. Ich weiß nicht, wer recht hat. Comenius und seine Verteidiger oder die modernen Bildungstheoretiker seit Humboldt, für die das Ziel der Menschheit noch nicht festgelegt ist.
Hans van der Linde: Wenn ich in der »Mutterschule« lese: der Mensch, der im Mutterleib ist, bereite sich auf das Leben auf Erden vor, wie das Leben auf Erden eine Vorbereitung für das Leben danach sein soll, dann denke ich, wenn jemand so etwas schreibt, ist er überzeugt, dass das Leben weitergeht, wenn man stirbt. Ob das mit sich bringt, dass einer in den Himmel geht und ein anderer in die Hölle, das weiß ich nicht. Hier projektiere ich natürlich die Tradition, in der ich aufgewachsen bin, wo diese Unterschiede nicht gemacht werden. Wenn Gott ein Gott der Liebe ist, ist es nicht denkbar, dass er Leute zur Hölle geschickt.
Meinert Meyer: Aber in den Bildern bei Comenius vom letzten Gericht werden die Menschen sortiert.
Hans van der Linde: Ja, aber das ist nur ein biblisches Bild. In den Offenbarungen des Johannes steht: Einmal soll auch der Moment da sein, dass Gott zu Gericht sitzt. Aber ich glaube nicht, dass Comenius dabei an eine Vorherbestimmung im Sinne des Determinismus gedacht hat.
Meinert Meyer: In diesem Zusammenhang erinnere ich an das Stichwort Chiliasmus.
Christian Görlich: Was mich bei der Vorbereitung am meisten fasziniert hat, waren die bereits zitierten Briefe von Comenius an Christus. Arme und Reiche schreiben an Christus, und Christus schreibt zurück. Auch dies schon eine methodische Raffinesse. Grundsätzlich wird von Christus in seiner Antwort nach meiner Erinnerung gesagt: Die Verhältnisse, wie sie sind, sind nicht in Ordnung. Aber jetzt keine Revolution, denn die Verhältnisse werden ja demnächst durch das Jüngste Gericht sowieso total verändert. Da war eine Endzeiterwartung, die wir überlebt haben. Es war der Zeitgeist, zielgerichtet auf das Weltende hin zu denken. Wenn wir heute diskutieren, dann haben wir einen Kant hinter uns – mit seinem Optimismus –, wir haben einen Schopenhauer hinter uns – mit seinem Pessimismus –, uns heute bleibt nur die Ironie beziehungsweise als Pädagogen ein trotziger Optimismus. Frei nach Weizenbaum: Wir wissen, dass wir als Pädagogen schon verloren haben, aber als Pädagogen müssen wir trotzdem Optimisten sein – in Anlehnung an einen mündlichen Bericht von Hentigs von seiner Begegnung mit Weizenbaum.
Meinert Meyer: In diesem Zusammenhang bringe ich immer Richard Rotry ins Spiel, einen amerikanischen Pragmatisten in der Nachfolge Deweys. Man muss in sozialen Feldern und gerade auch in der Erziehung nicht nach der Wahrheit suchen, sondern als Grundkategorie die Hoffnung nehmen. So findet sich in der »Pampedia« eine faszinierende Stelle, die Comenius fast wörtlich von Paulus übernimmt, aus seinem Brief an die Korinther. Paulus sagt: Durch Christus wird der alte Adam zur neuen Kreatur, dies ist eine Transformation, an der die Menschen mitarbeiten müssen – auch mit allen nachfolgenden Generation. Das ist ein pädagogischer Bildungsauftrag an die Menschen, und dann schreibt er: Das ist die cultura universalis. Das ist eine so tolle Idee von der Erziehung und der Kultur der ganzen Menschheit, dass die Vorstellung, dass ihre Realisierung nicht möglich wäre, beiseite zu schieben ist. Zumindest solange, bis dann vielleicht doch jemand kommt und uns nachweist, dass es nicht geht. Also die Hoffnung auf transformatorischen Bildung wird zur Wahrheit gemacht oder mit Richard Rotry als hoffnungsvolle legitimiert, auch wenn die Wahrheit als solche nicht auffindbar ist. Das ist ganz modernes Denken.
Hans van der Linde: Damit bin ich einverstanden. Mein Vater hat ein Buch geschrieben und als Titel gewählt: »Die Welt hat Zukunft«. Es ist auch auf Deutsch erschienen. Und das ist, was Comenius denkt: die Welt hat Zukunft. Das ist eine Theorie der Hoffnung. Die Welt ist jetzt vielleicht schlecht, aber es kann besser werden.
Christian Görlich: Es wurde die Kritik deutscher Pädagogen zitiert, dass im Hintergrund bei Comenius ein theologisches Weltbild stehe. Wen verwundert das? Es ist zeitbedingt. Die späteren Pädagogen, die sich vielleicht leider und zu sehr von der Religion und Theologie emanzipierten, hatten und haben im Hintergrund ihres Denkens, die Newtonsche Physik, indem sie formelgleich hierarchische Systeme aufstellen, dimensionieren usw. Das ist im Grunde ein mechanistisches und dem Menschen nicht ganz adäquates Denken. Auch diese latente Denkweise wäre deshalb heute wiederum ideologiekritisch zu hinterfragen. Weiter wäre zu erkunden, was heute im Unbewußten die Denkweise der Erziehungswissenschaften bestimmt. Jede Zeit hat ihren eigenen metaphysischen Mutterboden – die Theologie, die mechanistische Physik. Wie sieht der Mutterboden aus im Zeitalter eines quantentheoretischen Denkens? Oder sollten die Erziehungswissenschaftler nur vordergründig agieren?
Meinert Meyer: Ich bin erst über die Didaktik auf Comenius gestoßen. Er ist der Gründungsvater der Disziplin. Ohne ihn hätte ich nie eine Professur für Didaktik bekommen können. Es ist nahe liegend, sich Comenius unter diesem Aspekt genauer anzuschauen. Was ist das Interessante und Aktuelle an der Didaktik des Comenius?
Hans van der Linde: Für mich sind es zwei Sachen. Einmal ist es eine Technik, um lernen zu ermöglichen: die Bilder, die Nummern … kurz gesagt: die Vorschläge bezüglich der Technik, wie das Lernen funktioniert. Zweitens, dass das Lernen ein sinnvolles Ziel haben soll, nicht nur das, später sein Brot zu verdienen. Es ist auch darüber nachzudenken, wie das funktionieren kann: als Mensch zwischen anderen Menschen zu leben. Comenius geht noch weiter: Der Mensch soll sich vorbereiten auf das Leben nach dem irdischen Leben. Das ist für mich auch eine ganz klare Sache. Ich habe viel mit Kollegen über Erziehung gesprochen. Sie sagten: Erziehung ist mehr als die Vermittlung von Kulturtechniken! Kunst zum Beispiel bringt etwas, was der »normale« Unterricht nicht bringt. Wozu soll man lernen? Nicht nur, um zu lesen, zu schreiben, zu rechnen, um Häuser zu bauen oder eine Fabrik zu leiten. Man sollte auch etwas vom Leben mitbekommen und den Sinn verstehen, worum sich alles dreht. Das sind immer noch die zwei Hauptsachen auch für den heutigen Unterricht: Wie lernt man am besten? Wozu lernt man? Wie kann man Heranwachsende motivieren, das Arbeiten zu lernen. Das sind Herausforderungen, die sich in allen mglichen Kulturen stellen. Damit handelt es sich eine kulturell relative und anthropolgisch konstante Fragestellung. Es sind also zwei Sachen, die Comenius interessant und aktuell machen: die Frage nach der Technik: Wie lernt man am besten? und die Frage nach dem Ziel: Warum lernen wir?
Meinert Meyer: Sagst du damit, man könne von Comenius etwas für die Gegenwart lernen?
Hans van der Linde: Ja, das denke ich.
Christian Görlich: In Fragen der Methodik und Wertschätzung, sicherlich. Aber darüber hinaus? Didaktik will ja noch mehr. Comenius hatte ja auch das Ziel: Allen alles zu lehren. Was heißt eigentlich bei Comenius »allen alles«? Wie steht das zu unserer heute problematischen Verständnis von Allgemeinbildung? Sind das nicht auch Fragen der Wissensordnungen bzw. Diskurse im Foucaultschen Sinne?
Hans van der Linde: Hmh. Wenn ich mir eine Vorstellung machen kann, dann hat Comenius gemeint, dass Leute versuchen sollten zu schauen, wie Alles mit Allem zusammenhängt, und das »Rätsel von Gott« zu lösen – die Frage zu beantworten, was Gott von den Menschen will. Alles allen zu lehren? Nicht nur in der heutigen Zeit hat man da ein Problem. Man hat nicht die Zeit, alles zu lehren und zu lernen, aber es wird sich lohnen, dass man auf alle Fälle mehr erlernt als nur instrumentelle Sachen, vielleicht sich selbst besser kennen zu lernen.
Meinert Meyer: Bei uns in Deutschland ist Klafki ein großer Pädagoge und Didaktiker. Ich habe in einem Aufsatz geschrieben, dass Comenius eigentlich ein viel besseres Allgemeinbildungskonzept hat als der heutige Klafki. Der »Orbis sensualium pictus« ist ja im kleinen ein Allgemeinbildungsprogramm: von der Gottesdarstellung bis zum jüngsten Gericht. Da kann man natürlich mit Bezug auf dieses Modell kritisieren, dass das eine Konstruktion ist, aber es ist wenigstens eine Konstruktion. Demgegenüber ist Klafki über die Nennung von Schlüsselproblemen dieser Welt nicht hinausgekommen. Das reicht für mich nicht, um Allgemeinbildung zu konstruieren. Insofern würde ich einfach die These aufstellen: Man kann Comenius benutzen – gerade im »Orbis sensualium pictus«, aber auch in anderen Schriften –, um ein neues Verständnis für das Ganze zu entwickeln. Dann taucht dann natürlich Christians Problem wieder auf, wie man heute das Ganze widerspruchsfrei denken kann: etwa die Vorstellung gewisser Gruppen in den USA, dass nur eine Macht zu bestimmen hat. Der Rest der Welt habe sich unterzuordnen. Solche Weltanschauungen sollten heute vorbei sein. Gerade die Chinesen reden von verschiedenen kulturellen Zentren, die in ihrem Spannungsverhältnis für die Entwicklung der gesamten Welt als positiv anzusehen sind. In dem Vorbereitungsgespräch haben wir diskutiert, wie Comenius sich angesichts verschiedener Kulturen, auch nicht christlicher, verhält. Im »Orbis sensualium pictus« tauchen der Islam, die Mohammedaner und Juden einmal auf, aber sie spielen insgesamt eine marginale Rolle.
Hans van der Linde: Comenius sagt von Mohammed, er habe geträumt und nicht recht verstanden. Wenn Mohammed die Bibel lesen würde, dann würde er bekehrt, und alles würde gut sein. Comenius hat auch versucht, die Bibel in das Türkische zu übersetzen. Es ist vielleicht naiv von Comenius zu sagen: wenn man die Bibel lesen kann, dann wird man verstehen, wie es sein soll. Die Mohammedaner haben geirrt, aber wenn sie die Bibel lesen, wird alles zurecht kommen.
Christian Görlich: Heute haben wir strukturell die gleichen Probleme. Wir proklamieren, dass unsere Vernunft die einzige sei und keine andere.
Hans van der Linde: Hier kommen wir wieder auf das Ziel von Unterricht. Er soll zeigen, dass alles zusammenhängt. Auf holländischen Schulen lernen die Kinder ohne den Zusammenhang der einzelnen Segmente und Phasen. Jedes Segment hat wenig oder nichts mit der anderen Segmenten zu tun ist. Das ist schlecht. Es ist lange Zeit nicht möglich gewesen, über dieses Thema überhaupt zu reden. In Holland hat man seit 1795 eine Trennung von Staat und Kirche. Auch in Holland gab es einen Schulstreit. Da die Obrigkeit auch für die christlichen Schulen zahlen soll, hat man festgelegt, die Obrigkeit solle nichts über den Inhalt des Unterrichts sagen, um die Freiheit von Unterricht und Gottesdienst nicht zu gefährden. Diese Entscheidung hat es lange Zeit unmöglich gemacht, darüber zu reden und nach zu denken, was das Ziel von Unterricht seien soll. Denn der staatliche Unterricht ist nicht Unterricht, wo der Staat festgelegt, was gelernt werden soll. Bindend ist er nur mit Blick auf das instrumentellen Niveau – bezogen auf das Lernen des Lesens, des Schreibens und Rechnens. Aber es wird nicht festgelegt, wie alles miteinander zusammenhängt. Das ist auch eine Erklärung, dass in der Didaktik kein Gesamtbild darüber entstanden ist, was das Ziel von Unterricht ist.
Meinert Meyer: Klaus Schaller hat entsprechendes herausgearbeitet. Die Große Didaktik von Comenius ist ja erst sehr spät gedruckt worden. Vermutlich weil Comenius Kritik erhalten hat: das Werk sei nur eine Methodik, dass die Zielsetzungen darin nur unterbelichtet seien oder gar nicht auftreten. Offensichtlich hat er die Kritik akzeptiert und erst 10 oder 15 Jahre später das Buch gedruckt. Eben hast Du zitiert, dass das vorgeburtliche Leben im Mutterleib auf das Leben auf der Erde zielt, das Leben auf der Erde auf das Paradies ausgerichtet ist. Das stellt er ja in den ersten Kapiteln der Didaktik dar. Das ist für mich eine anthropologische/theologische Argumentation über die Seelenzustände der Menschen. Er will ja geradezu richtig beweisen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt.
Christian Görlich: Ich habe mit Interesse gelesen, dass es immer wieder Versuche gibt, das Wissen der Welt zu ordnen – in Enzyklopädien zum Beispiel. Bei Comenius haben wir hier auch eine Art enzyklopädischen Ansatzes. Das bedeutet in der Regel, dass es einen Autor gibt, der die Daten sammelt, sie ordnet, das Ganze in Buchdeckeln zusammen fasst etc. Heute haben dagegen wir ja auch Erfahrungen mit den elektronischen Medien, wo diese Arbeiten dezentral geleistet werden können. Theoretisch ist das möglicherweise sehr diffus, aber getragen von der Vorstellung, dass das Netzwerk eine unsichtbare Hand im Hintergrund hat, die das Weltwissen organisiert. Sie sagten eben, dass der Staat in Holland gegenüber den Schulen mit Direktiven sehr zurückhaltend ist. Kann man sich da nicht auch die Schulen als ein Netzwerk vorstellen, in der kleine Einheiten netzwerkartig zusammenarbeiten – wie wir zum Beispiel Ansätze zur Regionalisierung der Energieversorgung kennen. E bedarf dann natürlich Rahmenrichtlinien, so dass aber im Endeffekt an manchen Orten etwas entstehen könnte, was heute unter dem Vereinheitlichungsdruck und den Hierarchien nicht gedacht und geduldet würde.
Meinert Meyer: Ich erinnere an den grünen Slogan: Lokal handeln, Global denken. Du bist immer lokal, provinziell. Das ändert nichts, dass du versuchen musst in der heutigen Welt – wie sie nun einmal ist, und die ist immer globalisiert – zurechtzukommen.
Christian Görlich: Ich möchte das Gespräch noch einmal auf die Biografie von Comenius zurück führen. Ich habe mit Interesse gelesen, dass Comenius in öffentlichen Schulen gelehrt und sogar Schulleiter war, dass er aber auch in seinem eigenen Haus Kinder erzogen und als Privatlehrer gewirkt hat. Dabei soll er selbst ein Leben nach christlichen Muster geführt haben. Nun könnte man in der Differenz von »öffentlich« und »privat« auch unterschiedliche Lehrerleitbilder sehen. Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Propheten bzw. die Prophetin, die er in sein Haus aufgenommen hat?
Hans van der Linde: Comenius glaubte offensichtlich, Gott habe einzelnen Menschen die Möglichkeit gegeben zu erzählen, was kommen wird. Allerdings habe ich da auch Verständnisschwierigkeiten. Am Anfang versucht Comenius die Welt zu ordnen. Er kritisiert, was er sieht. Je älter er wird, umso schwieriger wird es für ihn, von der sichtbaren Welt den Bogen zur Gotteswelt zu spannen. Es gibt ein sehr schönes Lied, das im Gesangbuch der holländischen Brüdergemeinde steht: »Gott leite mich, denn ich kann mich selber nicht führen« Das letzte Buch, das Comenius geschrieben hat, klingt fast wie die Bibel. Es gibt so viele Zitate aus der Bibel darin. Comenius muss die Bibel auswendig gekonnt haben, sein ganzes Denken war davon geprägt.
Meinert Meyer: Das ist aber auch schon so in der Großen Didaktik. Da kommt doch auch ein Bibelzitat nach dem andern. Das war seine Art zu schreiben. Ich will einen letzten Punkt ansprechen hinsichtlich des Vorwurfs, die Große Didaktik sei nur eine Methodik. Comenius spricht von der natürlichen Methode. Man solle nachsehen, wie die Vögel aufwachsen, wie dort gelebt wird, aber auch bezüglich der Technik bei den Handwerkern, bei den Bildhauern usw., insbesondere auch beim Buchdruck, als der fortschrittlichsten Kunst der damaligen Zeit. Alles als Anregung für den Unterricht. Dem würde ich entgegen halten, dass Lehren und Lernen eben nicht nur natürlich sind, sondern hochgradig Kultur abhängig »kultürlich« wenn man das so sagen darf. Deshalb weiß ich nicht, ob das nicht eine Schwachstelle von der Großen Didaktik ist, wenn das Werk im Gesamtaufbau auch systematisch gedacht ist. Comenius fragt nachdem Sinn des Lebens. Dieser Sinn ist für ihn die Vorbereitung auf das Leben nach dem Leben. Daraus folgt dann die Aufforderung einer cultura universalis – der Erziehungsauftrag als theologische Aufgabe. Und dann kommt erst die Frage, wie man diese Ziele verwirklicht – mit all den Ratschlägen für eine der Natur und den Handwerkern abgeschauten Methodik. Da ist Comenius auch wieder erstaunlich toll und fortschrittlich – zum Beispiel mit der These, dass im Prinzip alle Kinder gleich begabt sind. Es gibt zwar Differenzen …
Hans van der Linde: … jeder kann etwas lernen.
Meinert Meyer: Dann kommt noch das Argument: ein Lehrer dürfe gar nicht entscheiden, ein Kind weniger gut auszubilden als das andere. Denn wer weiß, was Gott mit diesem Kind noch alles vorhat. Das ist ja eine herrliche, aber einleuchtende Argumentation. So gesehen noch einmal meine These: Wir können nicht alles unbesehen von Comenius übernehmen. Die eigentliche Provokation ist: Komm Knabe, lerne Weisheit! Die Erwachsenen übernehmen die Aufgabe der Lehre – entgegen dem, was bei uns heute in der Pädagogik unter den Stichworten Autonomie oder Selbstregulation des Lernens diskutiert wird. Das sind die Zauberworte der Gegenwart, die wären Comenius nicht in den Sinn gekommen.
Hans van der Linde: Comenius hat auch darüber nachgedacht hat, dass das Lernen und der Unterricht nicht nur das Kopieren von Natur sind. Wenn er über die Bücher von Gott redet, dann ist sonnenklar, jeder Mensch soll das Buch lesen. Aber es gibt auch die Natur, der man nachfolgen soll, es gibt auch den menschlichen Geist. Der Mensch ähnelt dem Bild von Gott. Comenius glaubt, dass der Mensch vieles schaffen kann, wenn er nur die richtige Führung hat und auf die richtige Weise nachdenkt. Das heißt, die Bibel zu lesen, in die Natur zu schauen, aber auch auf das Gewissen und den menschlichen Geist zu hören. In der modernen Erziehung geht es zunächst mehr um Vernunft und vielleicht dann um das Gewissen. Comenius hat gedacht, im Unterricht geht es auch um Technik, um Kenntnisse, wie sich alles zu allen verhält, aber vor allem um Moralität, Gewissen, Schuld und solche Themen. In der modernen Erziehung steht das Letztere im Hintergrund. Es geht primär um Kenntnisse. Die Frage, wozu man diese Kenntnisse nützen soll, ist in den Schatten getreten.
Meinert Meyer: Lieber Hans, wir sind angekommen. Wir danken dir für das spannende Gespräch.